Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
halb. Was man alles zusammendenkt, wenn man wartet. Liebt er sie? Wenn man zweifelt, dann ist das wohl schon nicht mehr die rechte Liebe. Wenn er sie aber nicht liebt, dann hat er an sie schon viel zuviel Gedanken, Zeit und Nerven gewandt. Noch dazu, wo er vor seinem Bachot steht.
Auf einmal brennen ihn die Banknoten, die er in der Tasche trägt, das Geld, das er für das Mikroskop erhalten und für die Befriedigung seiner Lüste aufbewahrt hat. Sepp liegt krank und allein zu Haus, die Eltern müssen sich hinten und vorn einschränken aus Geldmangel, und er sitzt hier und wartet auf eine Frau, die er nicht einmal liebt, und für sie will er das Geld vertun.
Es ist unvernünftig, wenn man es das erstemal macht, es mit einer Frau zu treiben, die man nicht liebt. Die Germanen haben sich aufgespart, bis sie einundzwanzig waren. Er hätte gern mit jemand gesprochen, der sich auskennt, aber er weiß niemand. Mit den Kameraden geht es nicht, die sind in diesem Punkt so anders. Er ärgert sich über sich selber. Auf Sepp blickt er hochmütig herunter, und wer ist er denn selber? Klein und bescheiden müßte er sein und sich bei Sepp Belehrung holen. Sepp ist wahrscheinlich in diesen Fragen sehr »menschlich«. Aber er kann nicht mit ihm sprechen. Er brächte die Lippen nicht auseinander.
Ein eingebildeter Lausbub ist er, ein dummer Protz. Er will seinen Vater »verwerten«. Er will dazu beitragen, daß die Volksfront zusammenkommt. Er will den andern was beibringen, er den andern. Einer, der vor den Pyramiden steht und nicht weiß, ob es die Pyramiden sind, und Schiß davor hat, hinaufzusteigen, so ein Trottel hat kein Recht, geschwollen und siebengescheit daherzureden und seinen Vater zu behandeln wie ein Lehrer einen Schulbuben.
Neun Uhr fünfundvierzig. Wenn sie in fünf Minuten nicht da ist, dann geht er. Es ist besser, wenn er sich noch eine Zeitlang aufspart. Wahrscheinlich ist es ein Glück für ihn, daß Germaine so unpünktlich ist. Die Liebe mag schön sein oder häßlich, aber Germaine, das scheint ihm jetzt ausgemacht, ist für ihn nicht die Richtige. Es ist nicht leicht, auf die Nacht zu verzichten, die er sich vorgestellt hat. Aber man muß enthaltsam sein können. Man muß die Kraft aufbringen, auch auf etwas zu verzichten, was einen lockt.
Es ist besser, hygienischer, wenn man es nicht zu frühtreibt. Wahrscheinlich hat jeder eine Kraftreserve in sich, die er nicht vergeuden darf. Wenn Antonius sich nicht bei Kleopatra vergeudet hätte, wäre er der Herr der Welt geworden. »Sich verliegen« heißt es mittelhochdeutsch, wenn einer zu den Frauen geht, statt große Taten zu tun. Wahrscheinlich ist es auch wegen dieser inneren Reserve, daß die katholischen Priester keusch bleiben müssen. Sie sollen ihre Kraft für geistige Dinge aufsparen.
Neun Uhr fünfzig. Das Paar tanzt wieder, er sitzt allein an seinem Tisch. Der Kellner kommt vorbei, er zahlt. Windet sich durch den Saal. Wenn sie jetzt noch käme? Er würde etwas stammeln und davonlaufen. Wenn er sie das nächstemal trifft, muß er sich entschuldigen. Auch wenn Gaston ihn fragt, wie es gewesen ist, wird er rot werden. Aber man lernt lügen. Jetzt ist er im Vorraum. Er späht um sich; es ist wie vor acht oder zehn Jahren, als man noch Indianer gespielt hat. Jetzt ist er an der Drehtür. Leute drängen herein, sie ist nicht darunter.
Er dreht sich hinaus, er ist im Freien. Er geht fort, schnellen Schrittes, es ist schon fast ein Laufen. Jetzt ist er um die Ecke und so gut wie sicher.
Aufatmend bleibt er stehen. Wie einem die frische Luft wohltut. Er könnte jetzt nach Hause gehen, dem kranken Sepp Gesellschaft leisten. Aber dann müßte er Geschichten erfinden, warum er schon so früh von seinen Leuten wegging, er müßte von neuem lügen, er kann das heut nicht mehr. Die Sache mit Germaine ist verquickt mit lauter kleinen Unredlichkeiten. Er ist dafür nicht der Mensch. Er ist froh, daß das Ganze hinter ihm liegt.
Was also soll er mit dem Abend anfangen? Vor halb zwölf kann er nicht gut nach Haus. Es fällt ihm ein, daß heute Mittwoch ist, da ist die Skulpturensammlung des Louvre auch abends auf. Das ist eine Idee.
Es sind viele Menschen im Louvre. Sie treiben sich herum zwischen den hellbelichteten Bildwerken, viele gelangweilt, viele dümmlich neugierig, den meisten sieht man an, daß sieKunst pflichtschuldig zur Kenntnis nehmen, ohne was Rechtes damit anfangen zu können. Dichte Scharen drängen sich um die Erklärer, welche einzelne
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