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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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gegangen. Das Gefühl unerträglicher Erniedrigung, das Raoul seit jenerOhrfeige vor Maria verspürte, hatte ihm ihren Anblick unangenehm gemacht. Sie ihrerseits hatte erkannt, daß es lediglich die Eigenschaften Wieseners waren, die sie in dem Jungen geliebt, und mit ihrer Ernüchterung vor Wiesener hatte sich ihr auch Raoul entzaubert.
    Der also erschien unangemeldet bei Wiesener. »Sie haben wohl gehört«, erklärte er, »daß ich jetzt gute Aussicht habe, mein Jugendtreffen zu verwirklichen. Mehrere Ihrer Parteifreunde, einflußreiche Herren, interessieren sich dafür. Ich bitte um klaren Bescheid, Herr Wiesener, ob Sie mein Projekt auch weiterhin sabotieren wollen.« – »Bist du verrückt, Junge?« antwortete Wiesener, erschreckt fast noch mehr durch das harte, tückische, entschlossene Gesicht des Jungen als durch das, was er sagte: »Ich war nie gegen dein Jugendtreffen. Ich habe …« – »Ich sehe, Sie machen Worte«, unterbrach ihn Raoul. »Sie beabsichtigen also, Ihre Sabotage fortzusetzen. Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich mir das nicht gefallen lasse. Ich habe Mittel, mich zu wehren, Herr Wiesener. Ich werde sie anwenden. Ich werde gegen Sie vorgehen.«
    Wiesener biß die Zähne zusammen; er wird sich nicht hinreißen lassen. »Ich weiß nicht, was das soll«, sagte er. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.« – »Sie werden es gleich wissen«, antwortete Raoul. »Sie haben erklärt, Sie seien nicht mein Vater. Ich ziehe die Konsequenzen. Sie sind ein fremder Herr, der meine Mutter und mich beschimpft hat und der sich meiner Karriere in den Weg stellt. Sie werden das nicht länger tun, Herr Wiesener. Ich habe einiges gelernt. Ich werde Sie in die Luft sprengen, Herr Wiesener. Ich werde Sie hochgehen lassen. Wenn mein Jugendtreffen nicht zustande kommt, dann ist es vielleicht mit meiner Karriere aus, ehe sie begonnen hat. Aber bestimmt ist es dann mit Ihrer Karriere aus.«
    »Jetzt aber genug«, sagte Wiesener; er schaute wild und zornig auf den Jungen, man sah ihm an, daß es ihn Mühe kostete, sich nicht auf ihn zu stürzen. Doch Raouls grüngraue Augen behielten ihre tückische Energie bei. »Sie könnenmich ruhig noch einmal ohrfeigen, Herr Wiesener«, forderte er den Vater heraus. »Das wird dann aber der letzte Streich sein, den Sie jemand versetzen. Ich warne Sie. An mir haben Sie sich einmal ungestraft vergreifen können: Ihrer Partei können Sie nicht ungestraft auf der Nase herumtanzen. Die zahlt es Ihnen heim. Sie glauben vielleicht, man weiß nichts davon, wie Sie gewisse Prinzipien Ihrer Partei verletzen. Ich warne Sie. Wenn Sie mein Projekt sabotieren, dann kläre ich einige Leute auf. Ihr Privatleben ist nicht so, daß Ihre Partei es einem ihrer Prominenten erlaubte. Ich bin zwar nicht Ihr Sohn, aber was Sie treiben, was Sie nach wie vor in der Rue de la Ferme treiben, riecht bedenklich nach etwas, was Ihre Partei für eine Schande ansieht.«
    »Assez«, sagte Wiesener, er sprach leise, beherrscht, und Raoul konnte nicht umhin, Respekt zu empfinden. »Ja«, sagte er, »es ist genug. Sie wissen jetzt, woran Sie sind.« Und er ging.
    Wiesener setzte sich, wischte sich den Schweiß ab. Mehrere Atemzüge lang stierte er vor sich hin, gedankenlos. Was war das, was da passiert ist? Eine Sohn-Vater-Tragödie? Ödipus? Aufstand der jungen Generation gegen die ältere? Quatsch. Er hat einfach eine unerhörte Eselei begangen, und das rächt sich jetzt. Zwischen ihm und Raoul ist es aus für immer. Ich habe meinen Sohn verloren, dachte er mehrmals und verhöhnte sich selber wegen seines Pathos.
    War das, was sein feiner Herr Sohn da sagte, eine leere Drohung? War es ein bloßer Ausbruch der Wut oder ein ernstgemeinter Erpressungsversuch? Raoul schädigt sich nur selber, wenn er seine Drohung ausführt. Wird er wirklich die Bindung auch mit der Mutter zerreißen wollen? Wird er die Lumperei begehen und hinlaufen und den Parteiinstanzen anzeigen: euer Wiesener schläft nach wie vor mit meiner Mutter? Wird er diese maßlose Dummheit begehen? Die Vernunft spricht dagegen, Gefühl und Geschmack sprechen dagegen, und Raoul, sein und Leas Sohn Raoul, ist von Natur weder schlecht noch dumm, noch geschmacklos.
    Trotzdem: er wird es tun. Vernunft, Sinn für Anstand, Geschmack, alles wird ausgeschaltet, wenn erst der Trieb einmal mächtig geworden ist. Das ist ja die Gleichschaltung, daß Vernunft und Anstand und Geschmack ausgeschaltet werden. Das ist unser braunes Zeitalter. Das sind die

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