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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Konsequenzen. Er an Raouls Stelle würde es genauso machen. Nur keine Illusionen. So ist es. Das ist die Essenz des Nationalsozialismus. Er hat oft davon geschwärmt, wie gut sie ihm bekommt, diese hundertprozentige, simple, kräftige Weltanschauung. Jetzt kriegt er sie zu spüren, die kräftige Weltanschauung.
    »Assez«, hat er gesagt, und: »Ja, es ist genug«, hat der Junge erwidert. Bestimmt wird er seine Drohung wahr machen. Darüber darf sich Wiesener nicht täuschen. Er darf die Dinge nicht treiben lassen. Er muß handeln.
    Offenbar hat der Rotzlöffel erfahren, daß er, Wiesener, sich bei Heydebregg gegen sein Jugendtreffen ausgesprochen hat. Nur Spitzi kann ihm das mitgeteilt haben. Mit grimmigem Lächeln sieht Wiesener die Hand, die Raoul auf diesen Weg vorgestoßen hat, die gut manikürte Hand Spitzis.
    Es bleibt Wiesener nichts anderes übrig: er muß ein zweites Mal mit Heydebregg sprechen. Muß einen großen Rückzieher machen, muß selber die Einwände wieder entkräften, die er gegen das Projekt erhoben hat. Das Jugendtreffen muß zustande kommen. Es ist gefährlich, wenn es zustande kommt; bestimmt werden die »P. N.« ihn ein zweites Mal angreifen, und die Folgen einer solchen zweiten Attacke werden haarig sein. Aber wenn das Jugendtreffen nicht zustande kommt, ist es noch gefährlicher. Eine Denunziation des Jungen, das wäre eine Lawine, die ihn und seine Karriere und seine Freundschaft mit Lea begrübe.
    Er ist ein Narr gewesen, daß er sich mit Raoul angelegt hat. Jetzt hat ihn der Junge in der Hand. Er muß ihm noch dankbar sein, daß er Lea nichts von dem Vorgefallenen erzählt hat. Da hat Raoul eine zweite Waffe zur Verfügung. Er wird sie anwenden. Der Junge geht über Leichen, genau wie Spitzi über Leichen gegangen ist. Die Generation ist härter als seine eigene.Die Generation, und das ist ihre Stärke, hält sich nicht mit langen Aufzeichnungen in einer Historia Arcana auf. Raoul ist in Wahrheit sein Sohn, nur jünger, härter, konsequenter.
    Wiesener haßte das Porträt Leas, das aus grünblauen Augen gelassen und mit leiser Ironie auf ihn herunterschaute.
    Schon andern Tages sprach er bei Heydebregg vor. Erklärte mit schönem Freimut, sein Urteil über das Projekt des Jugendtreffens sei zu rasch gewesen. Der Parteigenosse habe recht, er, Wiesener, neige in letzter Zeit bedenklich zu einer nicht immer angebrachten Zaudertaktik. Er habe sich das Projekt nochmals durch den Kopf gehen lassen. Nach reiflicher Überlegung halte er es für richtig, das Jugendtreffen trotz des damit verbundenen Risikos zu veranstalten.
    Heydebregg schwieg lange, die Augen geschlossen, die weißhäutige, riesige Hand mit dem gewaltigen Siegelring ballte und entspannte sich. »Ich bin mir«, erklärte er endlich, »noch nicht schlüssig geworden. Ich werde die Angelegenheit in den nächsten Tagen nochmals und in Ruhe überprüfen.«
    Wiesener hatte geglaubt, in seinem Herzen wünsche der Parteigenosse, Raouls Projekt zu fördern, und es seien nur seine, Wieseners, Einwände, die ihn daran hinderten. Er hatte angenommen, sowie er diese Einwände zurückziehe, werde Heydebregg keine Hemmungen mehr haben. Allein das Nilpferd hatte so trocken und beinahe abweisend erwidert, daß Wiesener besorgt wurde.
    Seine Sorge war unnötig. Heydebreggs Trockenheit war gespielt. Schon den Tag darauf erklärte er Herrn von Gehrke, das Projekt des Jugendtreffens habe seinen Beifall, und gab ihm Weisung, ein Memorandum über eine solche Begegnung auszuarbeiten.
    Da er sich durch diesen Entschluß vor die Notwendigkeit gestellt sah, seinen Aufenthalt in Paris zu verlängern, ging er daran, seinem Zimmer im Hotel Watteau den Charakter des Provisorischen zu nehmen, den es bisher getragen, und er vertauschte den holden Hintern der nackten Miß O’Murphy mit dem ernsten, schnurrbärtigen Antlitz des Führers.
16
Eine Protestversammlung
    Trotz der Bemühungen Annas kam Sepp in seinem Äußern herunter. Er vernachlässigte sich; sein Anzug glänzte an den Knien und Ellbogen, seine Hosen verfransten, er trug oft unfrische Kragen, erschien unrasiert, seine Haare blieben lange ungeschnitten. Wenn ihm Anna gut und geduldig zuredete, wurde er heftig. Seine Neigung zur Eigenbrötelei verstärkte sich. In der Redaktion fand man, er werde schrullig. Er versank zuweilen in sich selber, und seine tiefliegenden Augen schienen noch tiefer in ihre Höhlen hineinzukriechen.
    War er früher gesellig gewesen, so war ihm jetzt der Umgang nur mehr mit

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