Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
frühstückt. Er ißt vielerlei zum Frühstück, tunkt süße Kuchen in den Kaffee, löffelt hastig ein Ei aus, so daß Gelbes in seinem viereckigen, jetzt mehr grauen als schwarzen Bart hängenbleibt. Aber er ißt nicht mit dem rechten Appetit, er liest auch seine mannigfaltige Post ohne den rechten Anteil, selbst dem gewohnten Lärm, der ihn umgibt, fehlt das rechte Leben.
Er nimmt einen neuen Brief, überfliegt ihn. Nachum Feinberg sieht wartend zu ihm auf. Doch Herr Gingold hat zu dem Brief nichts zu bemerken, er teilt dem Sekretär auch nichts vom Inhalt mit, sondern legt das Schreiben ohne Kommentar beiseite. Seine Hände zittern dabei, und den Rest seiner Post liest Herr Gingold mechanisch, die Gedanken abwesend.
Es lautete aber das geheimnisvolle Schreiben folgendermaßen: »Der Pariser Vertreter der ›Westdeutschen Zeitung‹. Sehr geehrter Herr Gingold. Herr Wiesener beauftragt mich, Ihnen mitzuteilen, daß die Angelegenheit, derenthalben Sie bei ihm vorsprachen, neu untersucht wird. Herr Wiesener möchte Ihnen keine verfrühten Hoffnungen machen, glaubt aber, die Sache sei auf gutem Wege. Im Auftrag: Lotte« – der zweite Name war nicht recht zu entziffern –, »Sekretärin.«
Dank sei dem Allmächtigen, gelobt sein Name, jubelten Herrn Gingolds Gedanken. Diese gesegnete Lotte Unleserlich.Glaubt, die Sache sei auf gutem Wege. Aber halt an dich, mein Herz, juble nicht zu früh, hoffe nicht zu früh. Nein, nein. Ich werde keinem was sagen, ich werde es nicht bereden. Es wäre zu schrecklich, wenn die Sache ihren guten Weg nicht zu Ende ginge. Ich könnte es nicht ertragen. Ich will still sein. Ich will abwarten. Ich will mir nichts anmerken lassen.
Allein das konnte er nicht. Alle ringsum nahmen wahr, daß sich etwas höchst Erfreuliches ereignet haben mußte. Wenn jetzt Herr Gingold seine Tochter Melanie anherrschte, ob sie denn nicht sehe, daß seine Kaffeetasse leer sei, so merkte man, daß er wirklich Lust auf eine zweite Tasse verspürte, und er genoß denn auch den Rest seines Frühstücks mit sichtlichem Appetit. Und als er gar dem Kanarienvogel Schalscheles eine Krume reichte und, wie der Vogel ihn in den Finger pickte, eine kleine Lache aufschlug, da klang diese kleine Lache geradezu aufdringlich froh. Seine Leute ließen sich anstecken von seinem innern Jubel. Das Lärmen ringsum tönte auf einmal viel lebendiger, die ganze große, bunte, wirbelnde Wohnung in der Avenue de la Grande Armée bekam ein anderes Gesicht. Bisher hatten ihre Insassen ihr früheres Leben gespielt, jetzt lebten sie es.
Herr Gingold beherrschte sich. Wie er sich’s vorgenommen, unterließ er es, die Ursache seines Glückes zu bereden, um dieses Glück nicht zu verscheuchen. Aber er ging inmitten des fröhlichen Lärms, den seine Leute machten, erwartungsvoll herum mit ungewohnt verträumtem Gesicht.
Des Nachts dann träumte er wirklich. Er träumte, Hindele, sein Kind, sei unversehrt und sei zurück bei ihm in Paris. Als er erwachte, hielt er sich das alte Sprichwort vor: »Geträumte Krapfen sind keine Krapfen, sondern ein Traum.« Aber er träumte seinen Traum auch bei Tage weiter, und selbst als der nächste Tag und der übernächste und der dritte vergingen, ohne daß sich etwas ereignet hätte, wurde seine Zuversicht nicht geringer.
Am vierten Tag, des Morgens gegen zwölf Uhr, es herrschte gerade der übliche Lärm, Herr Gingold hatte überdies denRundfunk eingeschaltet und hörte die Börsenberichte, an diesem Tag also, des Morgens gegen zwölf Uhr, läutete die Flurglocke. Es durchzuckte Herrn Gingold, und wirklich, eine halbe Minute später, trat in den allgemeinen, jetzt aber sogleich wie abgeschnittenen Lärm Frau Ida Perles, geborene Gingold, Hindele, mein Kind.
»Ich hätte vielleicht depeschieren sollen«, sagte Hindele in die ungeheure Stille hinein, sie sprach unsicher, sie schwankte ein wenig und hielt dabei ihren kleinen Koffer und ihre Tasche etwas steif in den Händen, »aber man hat mir nicht erlaubt, von Deutschland aus zu schreiben. Ich hatte so schreckliche Angst. Ich kann es jetzt noch nicht glauben, daß ich hier bin. Als ich über der Grenze war, mitten in der Nacht, hab ich es auch nicht geglaubt. Und dann hab ich geglaubt, vielleicht ist es doch eine Falle, und es ist besser, ich depeschiere nicht.« Sie brach ab, sie schaute um sich, sie schwankte noch stärker, die Stille war noch tiefer geworden.
Im ersten Augenblick, da Herr Gingold Hindele sah, durchströmten ihn Glück und
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