Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Phantasie, wie sie ihn um Hilfe anging und wie er großmütig als Retter auftrat. Aber ach, das sind Wunschträume. Erstens wird es schwerlich dahinkommen, daß Lea in Not gerät, zweitens hat sie auch für einen solchen Fall eine Reihe zuverlässiger Freunde, die Pereyros zum Beispiel, und drittens und schlimmstens, selbst wenn sie keinen andern Freund fände, an ihn wendete sie sich bestimmt nicht.
Er starrte auf den leeren Fleck an der Wand. Er hat Lea verkauft, hat sie preisgegeben. Alles tat ihm weh vor Verlangen nach ihr. Hätte er jetzt zu wählen gehabt zwischen Lea und seiner Stellung, er hätte ohne Besinnen geantwortet: Lea.
Warum verkauft sie das Haus an der Rue de la Ferme? Sein Geltungstrieb heißt ihn Gründe suchen, die ihm schmeicheln. Sie sehnt sich nach ihm. Sie kann es nicht ertragen, in einer Behausung zu leben, in der alles sie an ihn erinnert. Leise freilich berichtigt bessere Erkenntnis: in einer Behausung, in der alles sie anwidert, weil er es berührt hat.
Ihn widert nichts an. Er bereut, daß er das Bild weggegeben hat. Aber der Parteigenosse hat ihn doch einfach dazu gezwungen. Nicht etwa mit Worten; in einem tieferen Sinn aber war es gleichwohl eine Erpressung.
Ob Lea die Möbel mitverkauft? Ob sie die »entarteten« Bilder mitverkauft, die er ihr geschenkt hat? Wenn seine Deutung richtig ist, daß sie in dem Hause nicht mehr leben will, weil seine Luft darin ist, dann gibt sie wohl auch Möbel und Bilder ab. Und seine Deutung ist richtig. Es wird wohl so sein, daß sie ihn liebt und sich gleichzeitig vor ihm ekelt. Ihm geht es ähnlich mit sich selber.
Er gab dem Agenten Auftrag, sich über das Objekt an der Rue de la Ferme näher zu informieren.
In Wieseners Posteinlauf fand sich ein schmaler Band, betitelt »Le Loup«, herausgegeben von einem angesehenen Verlag; als Verfasser zeichnete Raoul de Chassefierre, das Buch war in seinem Auftrag übersandt.
Wieseners Blut ging rascher. Er sah eine neue Möglichkeit, eine Brücke zu Lea zu schlagen. Junge Autoren sind eitel. Er dachte daran, wie stolz er selber gewesen war, als er sein erstes Büchlein gedruckt in der Hand hielt. Wenn er es klug anfing, konnte er vielleicht Raoul zurückgewinnen; dann hatte er eine neue Verbindung zu Lea.
Lotte erinnerte daran, daß die Arbeit dränge. Er wies sie ungnädig ab. Setzte sich in die Bibliothek. Las. Vor dem leerenFleck las er die Erzählung seines Sohnes »Der Wolf«. Geschmeichelt bald, bald entrüstet, vertiefte er sich in das Buch. So also sah er aus im Kopfe seines Jungen. Aber war das wirklich er? War er dieser Wolf? War er ewig hungrig und sprang an und riß und fraß, was ihm über den Weg lief? Leider träumte da sein Sohn Raoul einiges in ihn hinein; das Bild, das sich Lea von ihm machte, kam sicher der Realität viel näher.
Ja, wenn ein solches Buch früher entstanden wäre, dann, vielleicht, hätte er ihm helfen können. Wenn man ihn früher darauf gestoßen hätte, dann wäre er vielleicht wirklich ein Wolf geworden, der Wolf, als den ihn Lea haben wollte. Nun aber ist es zu spät. Er hat diese Seite seines Wesens, das Wölfische, zu wenig entwickelt, er ist zu zivilisiert, er hat nicht mehr die Kraft, von ganzem Herzen und mit gutem Gewissen gefräßig zu sein. Er ist gefräßig mit halber Seele, sein Fraß schmeckt ihm nicht infolge Moral, und wenn er sich mit noch so großer Energie vornimmt, ein Bösewicht zu werden, es nutzt ihm nichts mehr.
Aber mochte dem sein wie immer, auf alle Fälle bewies das Buch, daß jene höfliche Kälte, die ihm Raoul gezeigt hatte, gespielt gewesen war. Er trug brennendes Verlangen, sich mit dem Jungen auseinanderzusetzen. Anknüpfungspunkte gab es vielerlei, es gab viel über das Buch zu sagen. Kenner, der er war, sah Wiesener natürlich die Abhängigkeit des Werkes von »Sonett 66«, doch auch viele Spuren eigener Begabung. Es mußte möglich sein, Raoul auf dem Weg über die Literatur zurückzugewinnen.
Er schrieb ihm und bat um seinen Besuch. Er stilisierte lang an dem Brief herum, der Brief durfte nicht zu herzlich sein und nicht zu kühl, er durfte Raoul nicht mißtrauisch machen. Erst mit der dritten Fassung war er zufrieden.
Raoul seinesteils wartete gierig auf die Antwort des Vaters.
Tschernigg hatte ihm lange zureden müssen, ehe er den Verlagsvertrag unterzeichnet und das Buch publiziert hatte. Noch angesichts der Korrekturbogen hatte Raoul der Zweifel nicht losgelassen, ob er nicht Verrat begehe an sich und andem toten Harry
Weitere Kostenlose Bücher