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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Meisel, wenn er den »Wolf« in diesem unfertigen Zustand veröffentlichte. Er war sich höchst unzulänglich vorgekommen und hatte schmerzhaft deutlich gespürt, wie weit das Vollendete hinter seiner Absicht zurückblieb. Wie lebendig war alles gewesen, solang er daran schrieb; nun es objektiviert vor ihm lag, durch die Druckerschwärze in ein fremdes, von ihm unabhängiges Dasein entrückt, schien es ihm kalt und leer. Die erste Lektüre des gedruckten Werkes hatte ihn tief deprimiert, und es hatte Tschernigg viel Mühe gekostet, ihn durch ein Gemisch von Hohn und kräftigendem Zuspruch aus seiner Niedergeschlagenheit herauszureißen.
    Als er dann schließlich das fertige Buch in Händen gehalten, hatte er merken müssen, daß ihm alles Maß abhanden gekommen war für die Beurteilung. Bald verglich er die eigene Leistung mit dem, was Autoren auch von Geltung ihren Lesern zu bieten wagten, dann fand er sein Werk vortrefflich. Bald wieder maß er es an »Sonett 66« und fand es erbärmlich. Sein Verlangen, das Urteil Berufener zu hören, war immer heftiger geworden. Er hatte das Buch mehreren Schriftstellern zuschicken lassen, auf deren Spruch er Wert legte, aber es war keine Antwort gekommen. So hatte er schließlich seinen Widerstand überwunden und den »Wolf« auch Monsieur Wiesener übersandt.
    In solcher Stimmung, zermürbt von der Qual des Wartens, erhielt er Monsieur Wieseners Brief. Er wäre am liebsten noch am gleichen Tag zu ihm gegangen. Aber konnte er das? Durfte er’s? War es nicht schon Selbsterniedrigung, daß er ihm das Buch geschickt hatte?
    Allein die Begierde, mit einem Menschen von Kunstverstand über sein Buch zu reden, lieferte ihm rasch einen ganzen Haufen von Argumenten, die ihm einen Besuch bei Wiesener nicht nur erlaubten, sondern zur Pflicht machten. Monsieur Wiesener hatte ihm die Bekanntschaft mit Harry Meisels Werk verschafft, er hatte dadurch sein ganzes weiteres Leben bestimmt, und vor allem auch war ja Monsieur Wiesener der Stoff und der Anlaß der Erzählung »Der Wolf«. Nichts mehrwar da von dem Raoul der Ohrfeige. Der Autor des »Wolf« sah nur, daß primitive Höflichkeit gebot, Monsieur Wiesener den Besuch zu machen, den schließlich nicht er, Raoul, sondern Monsieur Wiesener selber angeregt hatte.
    Er ging zu Wiesener.
    Arsène, nicht sehr erfreut über das Erscheinen des jungen Herrn de Chassefierre, bat ihn, in der Bibliothek zu warten. Raoul sah den leeren Fleck an der Wand. Er hätte darauf gefaßt sein müssen, daß Monsieur Wiesener das Bild weggehängt hatte; es war das Natürliche, Gegebene. Trotzdem traf Raoul ein kleiner, schmerzhafter Schlag, als er den leeren Fleck wahrnahm.
    Monsieur Wiesener kam. Freude und große Hoffnung hatten ihn überschwemmt, als ihm Arsène den jungen Herrn de Chassefierre meldete. Er kam gestrafft, in Haltung, begrüßte seinen Jungen mit der gewohnten, weltläufigen Leichtigkeit, bot ihm den Porto an, den Raoul so gerne trank. Gierig, ohne daß er sich’s merken ließ, spähte er im Gesicht des Sohnes nach jedem Zug, den der mit Lea gemein hatte, voll Angst, und knüpfte Hoffnungen an jene Merkmale, die er selber mit Raoul teilte.
    Raoul antwortete höflich auf Wieseners höflich herzliche Sätze. Er danke, meinte er, den mancherlei literarischen Gesprächen mit Monsieur Wiesener so viele hilfreiche Erkenntnisse, daß er es für seine Pflicht gehalten habe, ihm als erstem das kleine Buch zu überreichen. Er sei gespannt, was Monsieur Wiesener darüber denke.
    Wiesener hatte sich lang und genau zurechtgelegt, was er Raoul sagen wollte. Aber angesichts des Jungen war ihm alles auf einmal entschwunden, er suchte krampfhaft in den Falten seines Gedächtnisses, er fand nichts. Er sei, meinte er schließlich und lächelte fatal, vielleicht zu sehr Partei, um sachlich über das Buch zu befinden. Gewiß könne ein episches Kunstwerk schwerlich ohne lebendes Modell zustande kommen, aber es sei dann für dieses Modell nicht ganz leicht, das so Entstandene lediglich nach seinem Kunstwert zu beurteilen.
    Mein Gott, was redet er denn daher? Er hat sich doch so hübsche Worte ausgedacht, um der Eitelkeit Raouls auf nette, nicht zu dicke Art zu schmeicheln. Statt dessen redet er wie eine Literaturgeschichte für die reifere Jugend und stößt den Jungen von sich ab, statt ihn anzuziehen. »Aus einer gewissen Eingesperrtheit in sich selber«, fährt er fort, »kommt man leider nicht heraus. Wenn ich deinen ›Wolf‹ lese, dann, ob ich will oder

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