Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
überspannt, und er wird enttäuscht sein, wenn sie nicht taugen.
Das Manuskript trug den Titel »Sonett 66«, und als Motto war vorangesetzt jenes Sonett Shakespeares, das mit denWorten beginnt: »Müd alles des, schrei ich nach Ruh im Tod«, und das in großartigen, verzweifelten Versen die Verderbnis der Zeit anklagt. Da spreizt sich hohles Nichts in Glanz und Herrlichkeit, reinster Glaube wird unheilvoll verstrickt, goldenes Ansehen schändlich an Lumpen vergeben, Kraft wird durch krummes Regime vertan, Leistung in Staub getreten, Persönlichkeit verbannt, der Kunst wird durch die Obrigkeit die Zunge gebunden, Verstand muß sich vom Wahnsinn verarzten lassen, überall werden Gut und Schlecht ins Gegenteil verkehrt. Harry Meisel hatte den kühnen Versuch unternommen, zu jeder Zeile des Sonetts eine Geschichte zu schreiben, spielend im Dritten Reich, und sich so auf die Hitlerschen Ereignisse seinen Shakespeareschen Vers zu machen.
Es war da ein Vorwort »Über die Freiheit«. Die Art, wie Harry Meisel in diesem Vorwort die gängigen Begriffe Freiheit, Gleichheit und Demokratie verhöhnte, stieß Trautwein ab. Der junge Autor bekannte sich zu dem Leninschen Satz, daß, solange die Klassen nicht aufgehoben seien, alle Reden von Freiheit leeres Geschwätz blieben und bürgerliches Vorurteil. Was sei das für eine Freiheit, höhnte er über die zeitgenössischen Demokratien, wenn zwar jeder zum Start zugelassen werde, aber der eine ein Auto mitbringen dürfe, während der andere mangels Mittel zu Fuß gehen müsse. Für die Pressefreiheit fand er so spöttische Worte wie Goethe oder Smollet. Was ihn am Deutschland Hitlers anekelte, war nicht der Mangel an »Freiheit«, sondern der Mangel an Vernunft. Nicht die Diktatur als solche empörte ihn, sondern die Diktatur der Narrheit und des Lumpentums über Verstand und Persönlichkeit.
Prinzipien von so kalter, höhnischer Vernünftelei, niedergeschrieben von einem Neunzehnjährigen, erregten Trautweins Ärgernis. Die kokette Arroganz des jungen Menschen, die im Gespräch durch seine persönliche Anmut verdeckt gewesen war, in diesen Zeilen trat sie ihm nackt und widerwärtig entgegen. Dem vierzigjährigen Oskar Tschernigg ließ erseinen zynischen, nihilistischen Aristokratismus hingehen: vorgetragen von einem Neunzehnjährigen, empörte ihn so viel individualistische Überheblichkeit. »So ein Rotzbub«, fluchte er, »so ein Klugscheißer, so ein grünes Früchtel.«
Wie anders wurde ihm, als er die Geschichten selber las. Das Manuskript war technisch schlecht hergestellt, es strotzte von Schreibfehlern, vieles ließ sich nur erraten. Trautwein aber, nachdem er die ersten Seiten gelesen, kam nicht mehr los. Dringliche Arbeit wartete, man rief ihn: er las. Es war in diesen Geschichten des »Sonetts 66« nichts mehr von den Ressentiments des Vorworts, kein Pathos und keine Sentimentalität, kein Hohn, keine Bitterkeit. Sicherer Kunstverstand hatte das alles fortgeätzt, und was in den Erzählungen blieb, waren nur Menschen und ihre Schicksale. Dabei hatte sich der Autor nicht etwa entpersönlicht. Aber erfüllt hatte er die ideale Forderung großer Schriftstellerei: er war aufgegangen in seinem Werk. Er war, gleich dem Gott Spinozas, immer und in allem da, doch niemals sichtbar.
Trautwein hatte geglaubt, das Exil zu kennen. Das war ein Irrtum. Jetzt erst, während er die erdichteten Geschichten des »Sonetts 66« las, erkannte er es. Er begriff, daß er bisher immer nur Einzelheiten gesehen hatte, ein Nacheinander, ein Nebeneinander. Jetzt sah er in einem die Größe und Erbärmlichkeit des Exils, seine Weite und Enge. Keine Schilderung, keine Erfahrung, kein Erlebnis vermochte diese Ganzheit des Exils, seine innere Wahrheit, zu offenbaren: nur die Kunst.
Trautwein las, spürte, begriff. Oft legte er das Manuskript hin und lief auf und ab, so überwältigte ihn eine Einzelheit. Er wollte verweilen, doch gleichzeitig drängte es ihn weiter. Jetzt verstand er die Trauer, die aus den Augen des jungen Dichters nicht weichen wollte. Was mußte der erlebt haben, ehe er diese dummen, empörenden, schauerlichen Ereignisse so kalt, klar und meisterlich hatte hinstellen können.
Trautwein beschloß, sich mit aller Kraft für Harry Meisels Werk einzusetzen. Aber was konnte er tun? Er hatte Erfahrung genug, um zu wissen, daß man schwer für das Manuskripteinen Verleger finden werde. Das »Sonett 66« war keine gängige Ware, es war weder pathetisch noch sentimental, und die
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