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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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immerhin noch einen Diener habe leisten können. Im übrigen sei es nicht ausgemacht, ob die in Frage kommenden Herren wegen oder trotz ihrer Armut Gutes zustande gebracht hätten. Villon, meinte er plötzlich und belebte sich, der sei wohl wirklich arm gewesen. Wenn der jetzt lebte, wäre er auch hier in der Baracke, schloß er überzeugt.
    So redete er, liebenswürdig, in einem beiläufigen Unterhaltungston, ohne Affektation, auch ohne Bitterkeit. Was ersagte, waren offenbar willkürliche Einfälle, wie sie ihm während des Gesprächs kamen. Trautwein lehnte sonst dergleichen als »falschen Glanz« ab; auch war er gemeinhin mißtrauisch gegen Leute von so auffallender, effektvoller Anmut. Doch dieser Harry Meisel, er merkte es verwundert, zog ihn von Minute zu Minute mehr an. Vor allem seine Augen fesselten ihn, weit auseinanderstehende, fliegende, lebendige Augen, aus denen aber ein Rest von Trauer niemals schwand, und Harry Meisels ironisches, überhebliches Geschwätz störte ihn nur wenig. Er selber war mit neunzehn täppisch gewesen, verschlossen. Jüdische Intellektuelle zeigten oft solche Frühreife. Hofmannsthal hat sich mit siebzehn Jahren seinen ersten Erfolg geholt. Weininger war neunzehn, als er sein großes Buch konzipierte.
    Harry Meisel verbreitete sich jetzt darüber, daß, seiner bescheidenen Meinung nach, ein Schriftsteller nicht in zu kleinen Zeiträumen denken dürfe. »Ich fühle mich nicht als ein Mensch dieses Jahres 1935«, erklärte er. »Ich bin ein Mensch des dritten Jahrtausends. Das ist natürlich unangenehm in einer Zeit, in der die meisten noch nicht einmal die Schwelle zum zweiten erreicht haben. Denn darin sind wir uns hoffentlich einig, daß es eine freche Beleidigung des Mittelalters ist, wenn man behauptet, daß zum Beispiel die Nazi uns dahin zurückführten. Feudalismus, Herrentum, Gotik, das sind doch geistige Zustände, weit über dem Horizont eines Urwäldlers. Zwischen der Renaissance, wie ein Machiavell sie beschrieben und ein Cesare Borgia sie gelebt hat, und Hitlers Konzentrationslagern und seinem 30. Juni ist ein Unterschied wie eben zwischen Florenz und Braunau. Mir scheint das Peinliche an unserer Situation, daß der weitaus größere Teil der vorhandenen Gehirne vormittelalterlich ist, urwäldlerisch primitiv, während einige schon weit in die Zukunft hineinreichen. Was mir am meisten Schwierigkeiten macht, mich auf diesem Planeten zurechtzufinden, ist die Tatsache, daß auf ihm gleichzeitig Männer leben wie Sigmund Freud und Hitler, Menschen, deren Gehirne entwicklungsmäßigdreißigtausend Jahre auseinander sind. Der Zg. Hitler und der Zg. Freud, der Zeitgenosse Hitler und der Zeitgenosse Freud, ich werde mit diesem Nebeneinander nicht fertig. Es verwirrt mich. Man muß viel Muße haben, um sich da durchzufinden. Die Muße habe ich hier, das ist nicht zu leugnen.«
    Der Ton, in welchem Harry Meisel das vorbrachte, war so schlicht und liebenswürdig, daß Trautwein die Affektiertheit des Inhalts kaum spürte. Auch im späteren Verlauf des Gesprächs spürte er sie kaum. Verdrießlich war ihm nur die Selbstgefälligkeit, mit der Harry Meisel seinen Widerwillen herausstrich, gegen eine Heimkehr zu den Fleischtöpfen Ägyptens. »Ich bin zu heikel«, meinte der Junge, halb spaßhaft, »ich leiste mir zuviel Gewissen. Ich bin neugierig, wie lange mir die Gesellschaft noch erlauben wird, so was wie Gesinnung zu zeigen.«
    »Wollen Sie mir etwas von Ihren Sachen geben?« forderte nach einer Weile Trautwein ihn auf. »Sachen?« überlegte Harry Meisel. »Wahrscheinlich ist es das richtige Wort. Ich werde Ihnen das Marktgängigste heraussuchen.« Auch diese Frechheit kam so liebenswürdig, daß Trautwein nur lächelte. »Geben Sie mir, was Sie wollen«, antwortete er, »vorausgesetzt, daß es ehrlich ist.« – »Sie verlangen allerhand«, meinte Harry, während er aus der Matratze Manuskripte hervorkramte. »Bitte, gehen Sie nicht mit falschen Voraussetzungen an das Zeug heran«, bat er und gab ihm die Handschrift. »Die ›Sachen‹ sind nicht etwa mit Herzblut geschrieben, sondern mit der Absicht, Geld zu machen.«
    Zwiespältigen Gefühls ging Trautwein nach Hause. Die heftige Eigenart des Jungen hatte ihn sehr angerührt; aber was Harry gesagt hatte, schien ihm, wenn er es auf seine bedächtige Art hinterher überlegte, versnobt und arrogant. Er hatte beinahe Angst vor den »Sachen«, die Harry ihm mitgegeben. Er fürchtete, sie möchten anspruchsvoll sein,

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