Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Schweizer Kommuniqué, das lückenlose Beweismaterial gegen die Deutschen. Doch in seinen Tiefen hatten sich, so schnell er sie zu vertreiben suchte, Tscherniggs Zweifel von neuem festgesetzt.
Er wollte von dieser Sache nichts weiter hören. Er begann von dem jungen Menschen zu sprechen, von dem Tschernigg ihm damals im Café Zur guten Hoffnung erzählt hatte, von jenem so begabten, wie hieß er doch?, Harry Meisel. Ob man nicht etwas von ihm zu lesen kriegen könne. Ob Tschernigg ihn einmal herbringen wolle. Tschernigg wollte nicht. »Mein Harry Meisel«, erklärte er, »geht nicht zurück in die Zivilisation. Mein Harry Meisel bleibt im Asyl. Er und das Asyl gehören zusammen. Der einzige deutsche Prosadichter unserer Generation in der Emigrantenbaracke, das ist das rechteBild unserer Welt. Wenn Sie ihn sehen wollen, Professor, dann müssen Sie sich schon gefälligst zu uns herunterbemühen.«
Trautweins Stundenplan war angefüllt bis zum Rand. Aber er hatte aus Tscherniggs Worten den Vorwurf der Lässigkeit, der Herzensträgheit herausgehört. Er fuhr hinaus ins Asyl, diesmal an einem Nachmittag.
Er hatte sich vorgestellt, Harry Meisel werde ähnlich sein wie Tschernigg. Um so mehr erstaunt war er, als er inmitten der trostlos kahlen Verlumptheit der Baracken einen schönen jungen Menschen vorfand von heiterm Anstand und gepflegter Kleidung. Bei alledem war Harry Meisel im Asyl nicht unbeliebt, die Sorgfalt, mit der er auf sein Äußeres hielt, schien die andern Insassen nicht zu kränken, seine Jugend, die natürliche Anmut seines glatten, bis zur Heftigkeit lebhaften Gesichtes und seines schlanken Körpers entwaffneten ihre spöttische Bosheit.
Der Neunzehnjährige, mit herrenhafter Liebenswürdigkeit, bot Trautwein einen Sitz auf seiner Matratze an. Er selber saß auf dieser schäbigen Matratze so bequem und natürlich, als wäre sie ein Klubsessel, während Trautwein unbehaglich mit spitzen Knien dahockte.
Der junge Mensch gefiel Trautwein vom ersten Augenblick an, und er rief seine ganze münchnerische Gemütlichkeit zu Hilfe, um sein Vertrauen zu gewinnen. Ohne Zudringlichkeit, doch mit Anteilnahme fragte er ihn nach seinem Schicksal aus, und Harry Meisel hielt nicht zurück.
Er war, stellte sich heraus, der Sohn eines ostjüdischen Vaters, der sich kurz vor dem Krieg in Deutschland angesiedelt und dort Vermögen erworben hatte. Papa Meisel, und vielleicht Mama Meisel noch mehr, hatten daraufhin einen immer penetranteren gesellschaftlichen Ehrgeiz entwickelt. Ihn, Harry, sowie er zu denken und zu werten begann, stieß ihre zugleich servile und parvenühafte Lebensweise ab. Die Nazi, sowie sie an die Macht kamen, wollten die Familie Meisel ausweisen. Papa Meisel verhinderte das durch ausgiebige Bestechungen. Der junge Harry, angewidert von den Seinen und von den Zuständenim Reich, verließ Deutschland. Die Eltern sperrten ihm die Subsistenzmittel, um ihn zur Rückkehr zu zwingen. Er zog den Aufenthalt in der Pariser Emigrantenbaracke dem Leben in dem komfortablen Berliner Elternhaus vor. Das war alles. »Me voilà«, schloß er seinen sachlichen Bericht.
Trautwein hätte gern mehr gehört. Einzelne Episoden unterrichteten ihn besser über die Geschichte eines Menschen als eine nüchterne Erzählung. Er versuchte, Näheres aus Harry Meisel herauszuholen. Der, Trautweins Anteilnahme spürend, versperrte sich nicht geradezu, aber es machte ihm wenig Freude, von seiner Vergangenheit zu berichten. Er beschränkte sich auf Andeutungen, und Trautwein mußte das meiste erraten. Manchmal ergänzte Tschernigg, und Trautwein merkte dann, heimlich amüsiert, wieviel Zärtlichkeit für den Jungen sich hinter Tscherniggs Zynismus verbarg.
Trautwein fragte vorsichtig, warum Harry denn so tatenlos und resigniert im Asyl herumhocke, ob er nicht versucht habe oder versuchen wolle, auf irgendeine Art Geld zu verdienen. Harry hatte es versucht, doch ohne Erfolg, und hatte es bald aufgegeben. Wir lebten, meinte er sachlich, in einem Jahrhundert der kleinen Betrüger, da habe er, Harry Meisel, wenig Chancen. Kurzgeschichten, wie die Zeitungen sie verlangten, bringe er auch nicht zustande. Wie die Dinge nun einmal lägen, gehöre er wohl hierher in die Baracke. »Die Armut ist ein großer Glanz von innen«, hatte Rilke gedichtet. Rilke selber sei freilich nicht arm gewesen. Es gebe, meditierte er, solche arme Dichter und solche. Lessing habe sich mit Geldsorgen herumschlagen müssen, auch Schiller. Welch letzterer sich
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