Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
neugierig, skeptisch, kühl, mit der Sprache hatte es gehapert, seine Fehler hatte man belacht, niemand hatte ihm das Leben erleichtert. Er hatte eine verdammte Sehnsucht gehabt nach München, nach dem Gebirg, nach seinen Kameraden, nach seinem Segelboot auf dem Ammersee, und wenn es nicht wegen seiner Eltern gewesen wäre, er wäre lieber in Deutschland geblieben, auch auf die Gefahr hin, Hitlerjunge werden zu müssen. Nein, so finster und trostlos, wie es damals in der ersten Pariser Zeit um ihn ausgesehen hatte, das möchte er kein zweites Mal durchmachen.
Er wird es kein zweites Mal durchmachen. Wenn man einmal erkannt hat, daß die Übel, mit denen man sich herumschlägt, nicht die Launen irgendeines tückischen und undurchschaubaren Schicksals sind, sondern von gewissen Leuten ersonnen, um die Macht und den Profit dieser Leute zu mehren, daß man also diese Übel abstellen kann, indem man ihre Nutznießer beseitigt, wenn man das einmal erkannt hat, dann hat man eine Aufgabe, das Leben hat einen Sinn, und ganz schlecht kann es einem nie mehr gehen.
Sowie er die großen Zusammenhänge einmal gesehen hat, ist ihm auch gleich aufgegangen, was er praktisch mit sich selber anfangen soll. Daß er Architekt werden würde, war ihmseit langem festgestanden. Häuser, Straßen, Städte hatten ihn immer interessiert, er hat das Bild der Stadt München und das der Stadt Paris mit hungrigen Augen eingesogen, er hatte sich auch kindisch darüber gefreut, daß sein Baukasten mit nach Paris gerettet war. Doch der Reiz, den Häuser und Städte für ihn gehabt hatten, war übers Ästhetische nie hinausgegangen. Seltsamerweise war es ein Buchtitel gewesen, der diese seine Freude in etwas viel Tieferes, Wesenhafteres umwandelte.
»Hundertfünfzig Millionen bauen eine neue Welt.« Wie hat schon dieser Titelsatz ihn erregt. Und als er gar den heroischen Bericht selber las – ach was, las, einsog wie ein Schwamm das Wasser –, als er erfuhr, wie diese Menschen im Osten ihr Leben im eigentlichen Wortsinn umbauten; neue Häuser aufrichteten an Stelle der alten, neue Städte aus dem Boden wachsen ließen, ihre alten Städte umschmissen und andere dafür hinstellten, da wurde er von Grund auf umgewühlt, als wäre er selber so etwas Altes, das umgestaltet werden sollte.
Bauen. Damals, als er dieses Buch gelesen, hatte er erkannt, daß er selber gemacht war, mitzubauen bei jenen, die diese neue Welt errichteten, im Wortsinn mitzubauen, mitzuplanen, Städte zu konstruieren. Die Freude an der Gestalt war ihm ergänzt und vertieft worden durch die Lust am Technischen, an der Konstruktion.
Täglich um jene Zeit, auf dem Weg zu seinem Lyzeum, war er an einem Neubau vorbeigekommen. Beschaut hatte er ihn sich jedesmal. Doch jetzt erst, nachdem er das Buch gelesen, sichtete er ihn erst richtig. Bauen. Das hieß nicht, einen Stein auf den andern setzen, das hieß viel mehr. Da stand dieses Gerüst aus Eisen da, unwahrscheinlich schlank und fein hob es sich in die Luft, und es war ein Wunder, daß so etwas dauern und das Skelett eines Hauses für Menschen darstellen sollte. Immer wieder hatte er das wachsende Haus angestaunt, wie da das Eisen Stein ansetzte, wie die Masse zusammenhielt, sinnvoll, wie eines das andere trug, wie das Ganze hinaufwuchs, in den Himmel hinein. Und sooft er an dem Neubau vorüberging, mußte er an einen Satz denken, den er in seinemBuch gefunden: daß nämlich die neuen, hohen Häuser der Sowjetunion nicht die Erde dem Himmel näher bringen wollten, sondern den Himmel der Erde.
Er erinnert sich genau des Druckbilds dieser Stelle. Er erinnert sich, wie er, nachdem er diesen Satz gelesen, das Buch zugeklappt hat, bestürzt, beglückt, daß es das gab, solches Wollen, solche Erkenntnisse und Menschen, die danach lebten.
Noch heute lächelt er, wenn er daran denkt, wie glücklich er damals war. Sein Gesicht, sonst nicht eben hübsch, bekommt durch die Erinnerung etwas so Frohes, gutmütig Starkes, daß die Passanten trotz ihrer Eile und ihrer Schirme einen Blick übrig haben für den Jungen, der da so barhäuptig und vergnügt durch den Regen läuft.
Der letzte Rest des Unbehagens, das Hanns zu Hause verspürt hat, fällt von ihm ab; beglückend füllt ihn das Bewußtsein, daß er weiß, worum es in der Welt geht und wohin er gestellt ist. Er verlangsamt den Schritt. Tief atmet er die feuchte Luft, vor sich hin lächelnd. Bleibt schließlich ganz stehen.
Da steht er in dem dünnen Märzregen auf der belebten Pariser
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