Exil
nachmittags nicht vor die Tür darf. Und ich vermisse Stefano, obwohl es absurd ist. Noch nie habe ich so viele Hausaufgaben gemacht; es hilft nichts, man muss sich einfach fügen. Tazim kommt herein.
»Äh, Samantha?«
»Ja?« Ich liege auf dem Bett und lese.
»Ich muss dir unbedingt etwas erzählen.«
»Na los, sag schon.«
»Truddi und Stefano küssen sich«, berichtet Tazim. Ich vergrabe den Kopf in meinem Kopfkissen, Tazim setzt sich auf die Bettkante und streichelt meinen Rücken. »Na, na«, sagt sie.
Truddi betritt das Zimmer.
»Hey«, sagt sie und wirft sich aufs Bett, liegt auf dem Bauch, umarmt das Kopfkissen, sagt nichts.
»Und wie läuft’s so mit dir und Stefano?«, erkundigt sich Tazim. Truddi antwortet beiläufig: »Er ist mir zu kindlich.« Ihre Stimme klingt nicht sonderlich überzeugend. Ich schnaube. Truddi sieht mich wütend an: »Du kannst ihn gern zurückhaben, Samantha.«
»Na, ist dir wohl nicht so richtig gelungen, was?«, erwidere ich. »Aber dieses Hin und Her ist eigentlich ziemlich erregend.« In Truddis Gesicht verwandelt sich die Wut in einen unglücklichen Ausdruck, nun vergräbt sie den Kopf im Kissen.
»Er hat sich geschnitten«, heult sie. Tazim geht zu ihr, um sie zu trösten und herauszufinden, was sie meint. Stefano hat sich selbst in die Brust geschnitten, um Truddi zu überzeugen, dass er sich umbringen wird, wenn sie ihn nicht anfasst.
»Er ist ein Psychopath«, sage ich.
»Aber …«, beginnt Truddi.
»Ach was, schließlich ist er nicht tot.« Tazim verlässt das Zimmer, um Salomon zu suchen, den Sohn des äthiopischen Botschafters in Dar. Salomon trägt Dreadlocks und ist natürlich mehr als alle anderen ein richtiger Rasta, weil er aus Zion kommt, dem Heimatland Haile Selassies. Tazim mag ihn. Truddi geht auch, vermutlich weil sie denkt, dass ich sie auslache. Ich starre vor mich hin, hätte gern eine Zigarette. Ich könnte auf die Toilette gehen und rauchen, aber das ist zu riskant. Ich werde wohl bis zur Hausaufgabenstunde warten und wieder behaupten, zur Bibliothek zu müssen, um dann vielleicht eine Zigarette mit Ebenezer zu rauchen. Aber ich habe keine Zigaretten. Vor dem Fenster bewegen sich die Büsche.
»Samantha?«
Es ist Panos.
»Ja. Hey!« Genial. Besuch. Er hat sich durch die Büsche an der Außenwand geschlichen und hockt jetzt unter dem Fenster. Niemand kann ihn sehen, wir müssen uns nur leise unterhalten.
»Ist es auszuhalten?«
»Quatscht Stefano?«, frage ich zurück.
»Nein. Seine Lippe ist aufgeplatzt«, antwortet Panos.
»Wieso?«
Panos zuckt die Achseln. »Er hat mich beim Rugby unsauber gerempelt.«
»Und dann hast du ihm eine verpasst?«
»He, das hat richtig wehgetan.«
»Na ja, ich find’s okay.«
»Ja, dachte ich auch.«
»War kein Lehrer dabei?«
»Doch, Smith«, erzählt Panos. »Aber der hat nur zugesehen. Für den ist Gewalt doch die einzig vernünftige Art zu kommunizieren.« Smith ist ein typisch englischer Unterklassenprolet. Er hat für Coventry gespielt, sagt er, und jetzt gibt er den Sportlehrer, während seine Frau Hausboss im Kilele- und Kipepeo-Haus ist.
»Ich brauche unbedingt ’ne Zigarette, Panos«, sage ich. Er steckt zwei Rex durch ein Loch im Moskitonetz.
Zöpfe
Ich habe Hausarrest und überhaupt keine Lust auf Schule. Es ist zu heiß, um im Bett zu liegen, und außerdem muss ich pinkeln. Wenn ich morgen behaupte, dass mir schlecht ist, werde ich auf die Krankenstation geschickt. Aber das will ich auch nicht, denn mama Hussein würde mich sofort durchschauen. Ich stehe auf und latsche zur Toilette, setze mich und will anfangen zu pinkeln, als mir einfällt, dass ich mir erst den Slip herunterziehen sollte. Betrachte meine Möse – eine deformierte Muschel mit Haaren, was ist daran so interessant? Wer weiß, ob ich je wieder glücklich werde?
Die anderen werden bald aus dem Unterricht zurückkommen. Ich gehe ins Zimmer. Greife nach meiner Haarbürste. Setze mich mit untergeschlagenen Beinen auf einen Stuhl. Starre aus dem Fenster. Presse die Bürste gegen die Innenseite meines Schenkels, bis sich Abdrücke auf der Haut zeigen. Höre Stimmen, Schritte auf dem Flur. Gretchen kommt herein.
»Hey!«, ruft sie. »Geht’s besser?« Ich antworte nicht. Sie sieht mich an. Ich schaue zu ihr auf. »Na, was ist das Problem?«, fragt sie. Ich gucke wieder aus dem Fenster. Halte die Haarbürste in die Luft. Sie soll mir Zöpfe flechten, aber ich kann nicht sprechen. Gretchen nimmt mir die Bürste aus der
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