Existenz
eine mit Draht und Klebeband reparierte Brille.
»Meinst du mich?«
Etwas an dem Jungen war seltsam. Er schaukelte vor und zurück und schaute an Mei Ling vorbei, als gelte sein Blick einem fernen Horizont.
»Mütter sind die Ursache aller Probleme und auch ihre Lösung.«
So dahingesagt klang es nach einem Aphorismus oder einer Redensart. Mei Ling erkannte, dass der Junge schlechte Zähne hatte, mit einem ausgeprägten Unterbiss, und hinzu kam Ausschlag an der einen Seite des Halses. Ganz offensichtlich stimmte etwas nicht mit ihm.
»Äh … Entschuldigung?«
Er stand auf und schlurfte näher, sah sie noch immer nicht direkt an.
»Jia-Jupeng, deine Mutter möchte, dass du zum Essen nach Hause kommst.«
Den Tonfall kannte Mei Ling. So hatten die Leute aus der Generation ihrer Eltern miteinander gesprochen und dann gelacht, obwohl Mei Ling nie verstanden hatte, was daran so witzig war. Plötzlich begriff sie: Dieser Junge musste ein Opfer der Autismusseuche sein. Mit anderen Worten: der Albtraum moderner Eltern. Instinktiv drehte sie sich zur Seite, um Xiao En zu schützen, obwohl die Krankheit nicht ansteckend war.
Vielleicht nicht die Krankheit. Aber Pech kann ansteckend sein.
Sie schluckte. »Warum hast du gesagt, dass ich nicht durch die Gasse gehen soll?«
Der Junge streckte ihr beide Arme entgegen. Für eine Sekunde dachte Mei Ling, dass er hochgehoben werden wollte, doch dann begriff sie: Er möchte meine Brille .
Ein Teil von ihr hielt es für besser zurückzuweichen – der Polizist, mit dem sie gesprochen hatte, war nicht jemand, den sie ungeduldig werden lassen wollte. Doch etwas in dem ruhigen, beharrlichen Lächeln des Jungen veranlasste sie, sich vorzubeugen, damit er ihr die billige Brille abnehmen konnte. Das Lächeln wurde breiter, und für eine knappe Sekunde begegnete er ihrem Blick; mehr menschlichen Kontakt schien er nicht ertragen zu können.
»Die Männer sind nicht hier, um Sojasoße zu kaufen«, sagte er.
»Männer?« Mei Ling drehte den Kopf und sah sich um. »Welche Männer?«
Der Junge schien die Frage zu ignorieren, untersuchte die Brille und achtete darauf, dass die Scanner sein Gesicht nicht erfassten. Dann warf er sie mit einem Lachen in die nächste Mülltonne.
»He! Ich habe gutes Geld dafür …«
Mei Ling unterbrach sich. Der Junge bot ihr seine eigene, zusammengeflickte Brille an.
»Schau sie dir an.«
Mei Ling blinzelte. Dies war verrückt.
»Was soll ich mir anschauen?«
»Männer. Warten auf Mutter.«
Ohne die Brille schien der Junge ein wenig zu schielen. Seine Stimme klang monoton. »Lass sie warten. Mutter geht nicht zu ihnen. Nicht heute.«
Mei Ling wollte die Brille nicht nehmen. Sie wollte sie nicht berühren oder gar aufsetzen. Und eigentlich wollte sie gar nicht wissen, wen der Junge mit »Männer« meinte.
Aber sie nahm die Brille und setzte sie auf.
Die Gasse verwandelte sich in einen hellen Tunnel, der durch sonnenlose Düsternis führte, vorbei an mehreren Läden, in denen Tüftler Metallschmuck erneuerten oder Kleidungsstücke aus echtem (wenn auch illegalem) Leder herstellten; in einem Laden züchtete eine Familie Superskorpione für Kampf und Kochtopf. Die Brille hatte primitiver ausgesehen als ihre eigene, fand Mei Ling, aber in Wirklichkeit war sie ein ganzes Stück leistungsfähiger. Sie konnte die Textur einer Jujube erkennen, die ein Bäcker aufschnitt, und sie irgendwie sogar riechen .
Symbole leuchteten am Rand des Tunnels, viele von ihnen chinesisch, aber nicht alle. Sie ordneten sich nicht in Reihen und Spalten an, sondern bildeten Spiralen und Wellen. Mei Ling richtete den Blick darauf, aber die Zeichen reagierten nicht.
Plötzlich veränderte sich die Perspektive und sprang zu einer Minikamera in der Mitte der Gasse, über einem dreirädrigen Lieferwagen. Die Kamera zoomte an dem Tuk-Tuk vorbei, dessen Motor lief, zu einem kleinen Laden, wo Mei Ling eine ältere Frau sah, die Muster auf halb fertige Cloisonné-Töpfe malte. Die Künstlerin wirkte nervös, und ihre Hand zitterte, als sie den Pinsel aus einem Topf mit roter Farbe hob, und einige Tropfen fielen auf die kannelierte Karaffe, an der sie arbeitete.
Wieder veränderte sich das Bild, und plötzlich sah Mei Ling durch die Brille der alten Frau und teilte ihren Blick.
Zuerst bemerkte sie nur den Pinsel, der den Schwanz eines Cartoon-Hummers vervollständigte, der alten Disney-Figur, die oft als Begleiter der Meerjungfrau Arielle aufgetreten war. Trotz des
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