Existenz
haben.«
Hamish antwortete mit einem höflichen Lächeln, was die Soziologin fälschlicherweise für ein Zeichen großen Interesses hielt. Sie wackelte mit den Fingern, deren Nägel sorgfältig bemalt waren. »Eine solche Art von sozialer Ordnung ist instabil. Zu abhängig von einem hohen Bildungsniveau, von Anstand, Vertrauen und einer gemeinsamen Zielstrebigkeit. Wie im alten Athen oder in Florenz ist es leicht, die Bourgeoisie dazu zu bringen, über Banales zu zanken. Man bringe sie dazu, zu heftig auf eine übertriebene Gefahr zu reagieren und alles andere zu ignorieren.«
Die Soziologin bemühte sich sehr, Hamishs Aufmerksamkeit zu behalten. Sie lächelte und neigte den Kopf immer dann, wenn er den Blick von seinem Teller hob – dieser Gang bestand aus Fisch: pochierter Gelbschwanz-Riffbarsch, sehr teuer, mit einem Hauch echtem Safran. Höflich begegnete er ihrem Blick und stellte fest, dass sie attraktiver war, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Hamish trank einen weiteren Schluck Wein und ließ sich das Glas vom Kellner nachfüllen, während die redselige Dame fortfuhr:
»Wie schon Plato lehrte, braucht eine stabile Gesellschaft eine breite Basis, die nach oben hin immer schmaler wird und deren Spitze aus einer superqualifizierten herrschenden Klasse besteht, aus Personen, die für Führung geboren und ausgebildet sind. Selbst unter dem sogenannten Sowjetischen Kommunismus konzentrierte sich die Macht nach kurzer Zeit bei einigen Hundert Familien der Nomenklatura . Mit anderen Worten, es handelte sich um eine klassische feudale Gesellschaft, trotz aller oberflächlichen gleichmacherischen Rhetorik.«
Glaubt sie, dass ich das nicht weiß?, fragte sich Hamish. Während er langsam nickte, ohne den Blick von ihr abzuwenden, lauschte er den anderen Gesprächen am Tisch. Hinter ihm wiederholte ein brasilianischer Düngemittel-Magnat Vermutungen über das außerirdische Artefakt, die schon vor Stunden uninteressant geworden waren. Auf der anderen Seite des Tisches sprach ein Eierkopf aus Tenskwatawas Ideenfabrik über wahrscheinlichkeitsgewichtete Verantwortung , über die Vorstellung, nach der Wissenschaftler und Innovatoren Versicherungen abschließen oder Anleihen kaufen sollten, für den Fall, dass sich negative Konsequenzen aus ihren Entdeckungen ergaben. Eine solche Entwicklung sollte dazu führen, dass die Betreffenden vor gefährlichen Experimenten gründlich überlegten. Eine Version des Vorsorgeprinzips, die eine Beweislast für jene verlangte, die Veränderungen bewirkten. Eine interes sante Alternative zu den vorgeschlagenen wissenschaftlichen Gerichten – diese Regelung würde es Risikomärkten überlassen, den Fortschritt zu steuern, anstatt dafür einen lenkenden bürokratischen Apparat zu bemühen.
Clever, aber jetzt ein Rohrkrepierer, da die reichsten Familien auf der Erde beabsichtigten, sich den Abkehrern anzuschließen. Die Oligarchen von morgen würden keine Marktmethoden verwenden; die Bürokratie ließ sich leichter kontrollieren.
»Alles deutet also auf eine Umkehr hin, auf eine Rückkehr zur pyramidenförmigen Klassenstruktur. Aber mit welcher Art von sozialer Pyramide werden wir es zu tun bekommen?«, fragte die Soziologin, davon überzeugt, Hamishs ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.
Sie flirtet mit mir, dachte Hamish
»Tja, das ist eine gute Frage«, erwiderte er und merkte dabei, dass ihm die Zunge schwer wurde. Der Wein ist zu gut. Du solltest ihn nicht hinunterstürzen, sondern in kleinen Schlucken genießen.
»Ja!« Die Frau nickte nachdrücklich, wobei ihre goldenen (vergoldeten) Halsketten klirrten. Sie lächelte übertrieben herzlich und zeigte dabei zu weiße Zähne, aber Hamish begann trotzdem Gefallen daran zu finden.
»Möchte unsere aufstrebende Aristokratie wirklich die Fehler wiederholen, die das gemeine Volk veranlasste, 1789 in Frankreich und 1917 in Russland zu rebellieren? Welchen Sinn hat es, all das Geld und all die Macht zu haben, wenn es schließlich damit endet, dass man auf einem Dungkarren zum Richtblock gebracht wird?«
Darauf wusste Hamish eine Antwort.
»Ludwig XVI. und Zar Nikolaus waren durch Inzucht erzeugte, geistig beschränkte Narren. Außerdem verfügten sie nicht über moderne Werkzeuge der Macht. Es gab keine Minikameras überall auf der Welt, keine unschlagbaren Lügendetektoren.«
Und es gab auch keine künstliche Intelligenz, fügte Hamish in Gedanken hinzu. Aber verzichten wir darauf, diesen dritten Punkt zu nennen. Gehen wir
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