Existenz
Häuserblocks gehen und sich dann nach links wenden sollte.
»Ich hoffe, Inspektorin Wu war nicht der Meinung, dass meine Kooperationsbereitschaft zu wünschen übrig ließ«, sagte Mei Ling und ging in die angezeigte Richtung.
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, erwiderte der Polizist. »Ich warte auf Sie.« Das Gesicht des Mannes verschwand.
Mei Ling folgte dem Pfeil ganz automatisch und hing dabei schwermütigen Gedanken nach. Es war nicht gut, die Aufmerksamkeit mächtiger Behörden auf sich zu ziehen – obwohl Inspektorin Wu und ihre Mitarbeiter während des Verhörs sehr freundlich gewesen waren und alles andere als bedrohlich gewirkt hatten. Mit einem großen, glänzenden Hovercraft waren sie zu ihrem kleinen Küstenheim gekommen.
Natürlich wollten sie alles über den leuchtenden Stein wissen, der so sehr dem Botschafter-Artefakt in Washington ähnelte. Auf die Frage, warum Peng Xiang Bin seine Entdeckung nicht der Regierung gemeldet hatte, antwortete Mei Ling ganz offen: »Wir haben befürchtet, dass es uns ebenso ergehen könnte wie dem früheren Besitzer des Steins.«
»Lee Fang fiel der Paranoia und der Korruption jener Zeit zum Opfer«, hatte Inspektorin Wu gesagt. »Aber die Leute, die ihn hinrichteten, erlitten das gleiche Schicksal während der Reformen, die der Zheng-He-Katastro phe und dem Big Deal folgten. Es ist sehr bedauerlich, dass Ihr Mann dies nicht in Betracht zog und seinen Fund zu uns brachte, zum Wohle der Nation.«
Mei Lings Hinweis, dass Xiang Bin und sie ihr großes Heimatland über alles liebten und respektierten, schien die Inspektorin zu besänftigen. »Na schön. Bestimmt finden wir ihn bald. Er wird ausreichend Gelegenheit erhalten, seine Loyalität zu zeigen.«
Damit machten sich die Polizisten wieder auf den Weg, und Mei Ling blieb benommen von Verhörmedikamenten und neuralen Sonden zurück. Sie ließen ihr sogar das Geld, das sie vom Pinguin-Roboter erhalten hatte, das Stückchen Komfort und Freiheit, das ihr Bins Abwesenheit brachte.
Würden sich andere Beamte, die einen höheren Rang bekleideten, anders verhalten? Mei Ling wurde immer nervöser, als sie sich den genannten Koordinaten näherte. Aber blieb ihr etwas anderes übrig, als den Aufforderungen der Behörden nachzukommen? Sie wussten, wo sie wohnte. Sie konnten den Küstenheim-Vertrag für ungültig erklären und der kleinen Familie das wenige nehmen, das sie besaß.
Der Richtungspfeil wies darauf hin, dass sie sich nach rechts wenden sollte, in eine Gasse. Die Brille reagierte auf Mei Lings skeptisches Blinzeln, blendete eine Karte ein und zeigte ihr, dass die Gasse eine Abkürzung zum Boulevard der Mythologie Munterer Kinder darstellte, berühmt für seine robotischen Skulpturen beliebter Figuren, von »Die Reise nach Westen« über »Schneewittchen« bis zu »Fengshen Bang«.
Vielleicht kann ich unterwegs einen Blick auf Pipi Lu, Lu Xixi oder Shrek werfen, dachte Mei Ling hoffnungsvoll.
Sie spähte in die Gasse, wo altmodisch-offene Läden eine Reise in die Vergangenheit anzubieten schienen, in eine Ära, in der es solche Straßen und Gassen in jeder Stadt gegeben hatte. Insbesondere vor der Revolution, als vier Generationen einer Familie zusammen geschuftet, eine winzige Wohnung über dem Laden geteilt und eisern gespart hatten, damit einer der Söhne zur Schule gehen und es zu etwas bringen konnte. Mei Ling hatte einmal ein Gedicht gehört, das dieses traditionelle Streben nach Vorankommen verspottete:
Erste Generation: Kuli; Geld sparen, Land kaufen
Zweite Generation: Hausbesitzer
Dritte Generation: das Land verpfänden
Vierte Generation: Kuli
Sollten diese scheußlichen Zyklen inzwischen nicht überwunden sein? Nach dem hundertsten Jahrestag der Revolution? Mei Ling hustete hinter vorgehaltener Hand und war in einem Punkt sicher. Ihr Sohn würde klug und gebildet sein, und sie würde ihm auch Weisheit vermitteln! Sobald wir diese schweren Zeiten hinter uns haben …
Sie wollte die Gasse betreten, als sie plötzlich eine Stimme hörte.
»Dorthin solltest du nicht gehen, geehrte Mutter.«
Mei Ling blieb stehen, blickte nach rechts und links und stellte fest, dass sie weit und breit die einzige klar erkennbare Mutter war. Als sie dorthin schaute, woher die Stimme gekommen war, bemerkte sie eine Gestalt in einem dunklen Hauseingang. Ihre billige Brille versuchte, das Bild zu verbessern, und ein Junge wurde sichtbar, etwa zwölf Jahre alt. Er trug einen verblassten grünen Anorak und
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