Existenz

von Top-Down-Kontrolle aus.
    »Nun, da haben Sie recht«, räumte die Soziologin ein. »Allerdings sind die Kameras und Wahrheitsmaschinen derzeit für den Ersten Stand ebenso lästig wie nützlich. Sie werfen ihr Licht nicht nur nach unten, sondern manchmal auch nach oben.«
    »Ja, aber es ist nur nötig, die Reziprozität zu durchbrechen «, sagte Hamish. »Indem man die Informationen kontrolliert und sicherstellt, dass sie nur in eine Richtung fließen. Man übernehme die Datenbanken. Man erfinde Gefahrensituationen, damit die Öffentlichkeit paternalistischen ›Schutz‹ akzeptiert. Man sorge dafür, dass viele Privacy-Gesetze ausgehebelt werden, und öffne dann einige Türen, damit die Elite alles sieht, ohne selbst gesehen zu werden.
    Natürlich steckt noch mehr hinter dem Programm«, fuhr Hamish fort und kam in Schwung. »Die Kasten der Klugscheißer und Besserwisser werden erkennen, was geschieht, und laut darüber klagen. Also sät man populistischen Groll gegen Wissenschaftler und andere Profis, bezeichnet sie als ›selbstgefällige Eliten‹. Und schließlich … wenn die Beamten und Techs das Vertrauen der Öffentlichkeit verloren haben, trenne man die anderen Stände vom Informationskreislauf, übernehme die vollständige Kontrolle über Kameras und Geheimdienste, und voilà – eine Tyrannei, die Jahrtausende stabil sein kann!«
    Die Frau starrte Hamish an.
    »Nun, so würde ich es nicht ausdrücken …«
    »Worauf es ankommt: Wenn die Leute ganz oben alles sehen – wie könnten Leute in der Art von Lenin oder Robespierre dann auch nur anfangen , Unruhe zu stiften?«
    Hamish lächelte, trank erneut einen Schluck und spürte, wie die leidenschaftlichen Worte seine Wangen heiß werden ließen. Er kam sich plötzlich vor wie bei der Präsentation eines neuen Filmprojekts einem Produzenten gegenüber, wenn er innerhalb weniger Sekunden eine Handlung schilderte, die auf Leinwand und Bildschirm sehr eindrucksvoll sein würde. Eine Geschichte, die das menschliche Wesen mit Historischem verwob und … Nun, der größte Teil davon war in der modernen Welt bereits Wirklichkeit geworden.
    Die Soziologin blinzelte mehrmals.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob Plato das Wort › Tyrannei‹ verwendet hätte.«
    Ups . Hamish merkte plötzlich, dass andere zuhörten und seinem Wortschwall gefolgt waren. Verdammt. Ich bin so sehr dem Story-Modus verfallen, dass ich die Aristos der Klade als Schurken dargestellt habe! Der nächste Schritt hätte darin bestanden, zu erklären, wie drei Helden die Diktatoren stürzen … in weniger als neunzig Minuten Filmzeit.
    Er stocherte auf seinem Teller und überlegte. Wie konnte er sich herauswinden?
    »Nein, natürlich nicht«, murmelte er, nachdem er gekaut und geschluckt hatte. »Totale Sicherheit dieser Art würde wahrscheinlich dazu führen, dass zukünftige Herrscher ihre Herrschaft weniger streng gestalten. Die von George Orwell beschriebene eiserne Faust wäre gar nicht nötig. Warum sich die Mühe machen? Perfekte Herrscher, die alles wissen und nichts zu befürchten haben, müssten nicht brutal sein. Sie würden es vielleicht mit einem platonischen Paradies versuchen.
    Aber bitte«, drängte er, »erklären Sie mir, wie konfuzianische Prinzipien eine pyramidenartige Gesellschaftsstruktur verbessern könnten.«
    Die Soziologin nickte und war doppelt froh: Einerseits konnte sie wieder über ihr Lieblingsthema reden, und andererseits bedeutete es, dass Hamish schweigen und zuhören würde.
    »Wie ich schon sagte, Mr. Brookeman …«
    Mit einem besonders bezaubernden Lächeln berührte er ihre Hand.
    »Nennen Sie mich Hamish.«
    »Sehr gern … Hamish.« Das Gesicht der Soziologin verfärbte sich ein wenig, und sie lächelte scheu und reizend, bevor sie fortfuhr: »Damals im zwanzigsten Jahrhundert dachten die Regierenden von Singapur, Japan und China über nichtwestliche Möglichkeiten nach, eine komplexe moderne Gesellschaft zu verwalten. Sie fanden die Aufklärung des Westens viel zu dreist und unvorhersehbar, und deshalb entwickelten sie clevere Methoden, Technik, Wissenschaft und gewisse Aspekte von Kapitalismus und Demokratie in eine soziale Ordnung zu integrieren, die im Wesentlichen traditionell und pyramidenförmig blieb, ohne das Chaos und die Konflikte, die in Amerika und Europa herrschten. Viele ihrer Inspirationen stammten aus der asiatischen Geschichte, die längere stabile Phasen aufweist als die der westlichen Länder.«
    Ja, sicher, dachte Hamish, während die