Exponentialdrift - Exponentialdrift
schmerzliches Lachen. »Es ist schiefgegangen«, sagte er. »Das habe ich mir schon gedacht.«
Bernhard Abel trat einen Schritt zurück in die Wohnung und vergewisserte sich, daß der Türgriff in Reichweite war. »Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem.«
»O nein. Ganz bestimmt nicht«, sagte der Mann im roten Parka. Er gab einen langgezogenen Knurrlaut von sich, ein merkwürdiges, wolfsartiges Stöhnen. Ein Verrückter, dachteAbel, schob die Tür bis auf einen Spalt zu und erklärte: »Ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt.«
»Du hast alles vergessen, oder?« meinte der Mann kopfschüttelnd. Er trug die Haare kurz und sah eigentlich wie ein bodenständiger Arbeiter aus, nicht wie jemand dicht vorm Durchdrehen.
»Ja, ja«, sagte Abel, in der Hoffnung, ihn so loszuwerden.
»Du hast alles vergessen, was deines ist?« sagte der Mann. »Du denkst, du bist wirklich Bernhard Abel?«
Das traf ihn wie ein elektrischer Schlag. Sein nicht weichen wollendes Gefühl, jemand anders zu sein! Wie konnte jemand davon wissen?
»Können wir einen Moment reingehen?« bat der Mann.
Abel wich widerstandslos zur Seite, ließ den Fremden wortlos eintreten. Wie gelähmt, unfähig zu antworten, schloß er die Tür.
Der Mann musterte den schmalen Flur mit einem ebenso flüchtigen wie desinteressierten Blick. »Was sagt dir der Name Nemezir?« fragte er.
»Nemezir?«
»Nemezirs Berechnung. Der Grund, warum du hier bist.«
»Hier?« Bernhard Abel sah sich seinerseits in der dunklen, engen Wohnung um.
»Nicht hier. Hier! « sagte der Mann im roten Parka ungehalten und deutete auf den Boden, als erkläre das alles. »Erinnere dich! Als du aufgewacht bist, muß es dagewesen sein. Alles. Du kannst es erst danach verloren haben.«
Abel sah ihn an, versuchte dumpf zu verstehen, was von ihm verlangt wurde. Der andere schüttelte seufzend den Kopf. »Du hast es verloren, ich sehe es. Es funktioniert so nicht. Nicht ein einziges Mal habe ich Bericht erstatten können, aber anscheinend haben sie nichts daraus gelernt. Natürlich, ich habe es damals auch für eine gute Idee gehalten, sanft vorzugehen. Sehr symbolisch. Wir kommen in Friedenund so. Aber wir müssen es so machen wie die Entschlossenen, sonst erreichen wir gar nichts.« Er musterte Bernhard Abel mit einem intensiven Blick. Seine Augen waren wie bodenlose dunkle Seen. »Keine Erinnerung? Nemezirs Berechnung? Exponentialdrift? Nichts?«
Abel zuckte zusammen. »Exponentialdrift!?« Das Wort löste etwas aus. Er horchte in sich hinein, grub in seiner Erinnerung. »Als ich noch in der Klinik war, unmittelbar nach dem Erwachen, habe ich nach einem Wort gesucht, einem wichtigen Wort –«
»Aber du hast es nicht gefunden.«
»Nein. Bis jetzt. Exponentialdrift, das war es.« Er blinzelte irritiert. »Aber was bedeutet es?«
Der Fremde schüttelte entmutigt den Kopf. »Das ist zu wenig. Wenn du nicht einmal das mehr weißt, wirst du noch weniger ausrichten als ich. Und ich habe praktisch nichts erreicht.«
»Was heißt das? Und wer sind Sie überhaupt?«
Der Mann bewegte sich auf die Tür zu. »Es war ein Fehler zu kommen. Ich habe dich nur unnötig beunruhigt. Du hast nur noch die Erinnerungen von Bernhard Abel, also kannst du nichts weiter tun, als sein Leben zu leben. Deine Mission ist gescheitert, ehe sie begonnen hat.«
»Was für eine Mission? Wovon reden Sie, verdammt noch mal?« Er versuchte, sich dem Unbekannten in den Weg zu stellen, doch der war schneller, hatte die Tür schon offen.
»Vergiß, daß ich hier war. Versuch einfach, Gleichgewicht zu erreichen. Glücklich zu sein, solange es eben geht. Solange der Plan noch nicht abgeschlossen ist.« Er trat hinaus in die hallende Kälte des Treppenhauses, warf einen letzten traurigen Blick zurück. »Und vergiß vor allem, was ich gesagt habe. Es tut mir leid.«
Damit ging er, eilte polternd die Treppe hinab.
»Ihr Name?« rief Bernhard Abel durch das Treppenhaus. »Wie ist Ihr Name?«
Doch er hörte nur noch das Geräusch der zufallenden Haustür.
Fortsetzung folgt ...
FOLGE 10
E INEN MENSCHEN JAHRELANG im Koma liegen zu sehen, ihn zu untersuchen und zu behandeln war eine Sache – ihn hellwach und aufgebracht vor sich zu haben eine völlig andere. Doktor Jürgen Röber brauchte peinlich lange, ehe er Bernhard Abel erkannte. Dabei war dessen geradezu wundersames Erwachen nach über vier Jahren im Wachkoma noch keine zwei Monate her.
»Herr Abel!« sagte er übertrieben freundlich in dem Versuch, die
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