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Exponentialdrift - Exponentialdrift

Titel: Exponentialdrift - Exponentialdrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Peinlichkeit zu überspielen. »Wie geht es Ihnen?«
    Abels Gesicht war verdüstert und blieb so. »Letzte Woche war ein Mann bei mir. Freitag vormittag. Ein Mann in so einem billigen roten Parka. Er wußte, wie ich heiße. Und er hat eine Menge seltsames Zeug geredet.«
    Der Mann im roten Parka. »Der war hier«, nickte Röber und hob die Hand. »Am Donnerstag. Er hat nach Ihnen gesucht. Er sagte, er sei ein Schulkamerad von Ihnen.«
    »War er nicht.« Sicher schien Abel sich trotzdem nicht zu sein; er verfiel ins Grübeln. »Zumindest erinnere ich mich nicht.«
    »Von uns hat er Ihre Adresse nicht, das kann ich garantieren. Das sind Daten, die wir nicht herausgeben; in Ihrem Fall schon gar nicht.«
    Abel schien ihn nicht zu hören. »Er wußte so viel über mich. Er wußte sogar dieses Wort, das ich nach dem Aufwachen gesucht habe. Exponentialdrift. Er kannte es. Es ist mir wieder eingefallen in dem Moment, in dem er es gesagt hat.« Er sah auf. »Aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Es steht inkeinem Lexikon. Im Internet findet man nichts dazu. Ich verstehe das alles nicht.«
    »Exponentialdrift?« Röber musterte seinen ehemaligen Patienten skeptisch. Eine Krise?
    »Es arbeitet in mir, seit der Mann da war«, erklärte Abel und machte eine Bewegung mit den Händen, als wolle er Röber jeden Moment am Kittel packen. »Verstehen Sie? Ich muß diesen Mann finden. Ich muß herausfinden, was er über mich weiß. Was das alles soll, verdammt noch mal!«
    Es war ein hartes Stück Arbeit, ihn zu beruhigen, ihm mittels wohlgesetzter Worte, ärztlicher Autorität und zweier sedierend wirkender Tabletten klarzumachen, daß Aufregung unangebracht war, schädlich wirken konnte und in keinster Weise hilfreich sein würde bei der Lösung welchen Problems auch immer. »Schauen Sie, daß Sie sich an den Mann nicht erinnern, muß nicht heißen, daß Sie ihn nicht tatsächlich einmal gekannt haben. Ihr Erinnerungsvermögen kann Lücken aufweisen, ohne daß Sie sich dessen bewußt sein müssen. Das ist wie beim blinden Fleck im Auge: Sie merken nicht, daß da nichts ist.«
    Abel nickte, bedächtig und versonnen. »Ich könnte meine alten Adreßbücher durchsehen. Ich glaube, meine Frau hat sie aufbewahrt. Vielleicht fällt mir etwas ein.«
    »Tun Sie das.« Röber lächelte sein bestes Halbgott-in-Weiß-Lächeln . »Und, arbeitet es immer noch in Ihnen?«
    Abel schüttelte den Kopf. »Es geht mir gut.«
    »Na sehen Sie.«
    Dafür arbeitete es auf einmal in Doktor Röber. Er merkte es, nachdem Bernhard Abel zufrieden abgezogen war und er sich eigentlich wieder seiner Arbeit hätte widmen können. Nicht daran zu denken. Er starrte tomografische Schädelaufnahmen an und sah doch nur jenes merkwürdige Mal vor sich, das der Unbekannte im roten Parka am Hals gehabt hatte, von den Umrissen her einem Pferdekopfähnelnd – ein Hautfleck, den er schon einmal gesehen hatte! Nur wo?
    Immerhin war er Neurologe. Ein wenig wußte man da schon über das Funktionieren des Verstandes, auch des eigenen. Er würde es nicht erzwingen können. Aber, beschloß er, er würde versuchen, der Erinnerung den Boden zu bereiten.
    Irgendwie brachte er die Zeit bis zum Ende seiner Schicht herum. Zu Hause stöpselte er als erstes das Telefon aus und nahm ein ausgedehntes Wannenbad mit einem Kräuterzusatz, der ihn zuverlässig von seinem letzten Urlaub in der Provence träumen ließ. Später, wohlig frisch in den Bademantel gewickelt, trällerte er ein französisches Lied vor sich hin, während er sein Lieblings-Spät-Nacht-Nudelgericht zubereitete. Er deckte den Eßtisch im Wohnzimmer, was er sonst nur zu tun pflegte, wenn seine zwar langjährige, aber immer noch weit entfernt lebende Freundin – sie lebte in Berlin und beharrte darauf, nur dort leben zu können – zu Besuch war. Die Stereoanlage umrieselte ihn mit einem Klavierkonzert von Mozart, während er sein Essen und dazu einen schweren, herrlichen Bordeaux genoß. Er sah versonnen auf seinen Teller hinab und auf die Muster, die die Pilze und Kräuter mit der cremig-weißen Soße bildeten. Das da zum Beispiel, das fast so aussah wie die Umrisse eines Pferdekopfes ...
    Plötzlich wußte er, wo er das Mal am Hals des Unbekannten schon einmal gesehen hatte.
    Er ließ alles stehen und eilte in sein Arbeitszimmer. Auf einem der Schränke staubte der Karton vor sich hin, den er suchte, ein grellbuntes Faltdings von IKEA, wie man es damals praktisch gefunden hatte, vor mehr als zehn Jahren, als Student. Er

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