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Export A

Export A

Titel: Export A Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kränzler
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Morgana »Himmelreich« gebaut, ihr Leid und ihre Verzweiflung in schillernde Farben verwandelt und gehofft bis zum Wahnsinn. Warum sollte ich um einen Platz in den Wahnvorstellungen fremder Menschen betteln? Sechs Tage in der Woche wuchs mein Widerwillen. Am siebten aber tarnte ich mich, streifte die alte Haut über, deren Reste über den Gartenzäunen und den rotgepolsterten Kirchenstühlen in der Fir Street hingen, und gesellte mich zu den Schafen.
    Schon bald würden die alten Nähte platzen, die Widerstände offen­liegen. Die Innenwände meiner Herzkammern waren mit den ruhmlosen Namen von Jungs verziert, die vorsätzlich Dummheiten begingen. Gescheiterte, für die ich nicht tadellos sein musste, ­bevölkerten meine Brust. In der Centennial durften Fehler gemacht werden.
    Ich wollte die Gelegenheit, die Freiheit, Fehltritte begehen zu dür fen, ergreifen, alles wagen, alles setzen. Mit fest geschlossenen Augen, geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen wünschte ich mir zu leben, einfach in den Tag hinein, ohne Schutz, ohne Rückhalt, ohne Werte, ohne Schuldgefühle und ohne Zwang mich mit anderen zu vergleichen. Die Stimme der Rebellion dröhnte mir in den Ohren, Sprechchöre hallten unter meiner Schädeldecke und forderten mich auf, mein Ich zu revolutionieren und Piratenbraut auf der »Joshua« zu werden.
    Alles auf mintgrün!
    Es gelang mir nicht. Ich konnte nicht aufhören, mich selbst beim Leben zu beobachten. Die Macht der Instanz, die meine Worte und Taten beurteilte, blieb ungebrochen. Meine Luftschlösser wurden mit gnadenlosen Urteilssprüchen bombardiert, ruhige Minuten mit schwerem Blei verhagelt, die Soldatenstiefel unter der Richterrobe traten mir ins Gewissen und erinnerten mich an die Grenze meines Freigangs. Der Erdball würde weiter auf den Ab­reise­tag zurollen und zu Hause warteten die alten Ansprüche auf mich. Doch ich fühlte mich bereits meiner Herkunft entfremdet. Die Komposition der Heimatbilder erschien mir seltsam verändert, und meine Versuche, mich in die einzelnen Szenen einzufügen, missglückten.
    Meine Gestalt ließ sich nicht eingliedern. Nicht in die Centennial, nicht in die Kirche, nicht in die Heimat. Stattdessen lieferte sie die Fläche für die Projektionen meiner Umgebung. Die Mimik meines Gegenübers führte Regie. Ich erspürte die Erwartungen und passte ihnen meinen Text an. Je besser mein Spiel wurde, desto verlassener fühlte ich mich. Ein Betrüger ist nirgends daheim, der Betrug wird sein Zuhause.
    Und doch gab es sie manchmal, die bedenkenlosen, unmittelbaren und vielleicht sogar vollkommenen Momente der Freiheit, diese Chancen auf Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit. Die Sehnsucht schärfte mir die Sinne, ließ mich diese Gelegenheiten wittern und ihre Fährten lesen. Ich war ihnen auf den Fersen, erkannte sie bereits aus der Ferne. Wenn das Licht günstig war, drehten sie sich um, fielen über mich her und zertrümmerten die Gedankenschranken. Der vollkommene Moment verschlang mich und verschluckte alles, solange er dauerte. Am Ende spie er mich zurück in meine Muster.
    Nur im Bauch des vollkommenen, des idealen Moments durfte ich hilflos lebendig sein, mich zu Fehlern verleiten lassen und dabei auf mein Glück vertrauen. Mit den Zähnen knackte ich meinen Mandelkern und machte mich angstfrei. Endlich musste ich mir nicht mehr vornehmen, mutig zu sein.

16.
    Ich erklimme den Einfahrtshügel. Die Schuhspitzen meiner Sneaker rammen die Eisdecke. Jeder Schritt ein Tritt.
    Hohe Fichten säumen die Steigung und bilden die Grundstücksgrenze.
    Meine Arme rudern haltsuchend auf die Zweige zu. Wie ein Skifahrer in einem streikenden Schlepplift hänge ich an den Ästen, kämpfe gegen das Abgleiten, verbiete mir eine lustige Rutschfahrt zurück zum Haus und überwinde das Steilstück. Mit nassen Knien erreiche ich das Trottoir, klopfe mir den Schnee ab, hoffe, dass niemand meinen unsicheren Aufstieg beobachtet hat, und atme erleichtert auf, als ich die leeren Fenster sehe. Das Publikum hat sich in den Keller verzogen. Gut so.
    Vorsichtig betaste ich meine Jackentasche, vergewissere mich, dass sie trocken und ihr Inhalt heil geblieben ist, bevor ich auf die Centennial hinaustrete und mich nach Norden wende.
    Die Räumfahrzeuge haben die Straße längst aufgegeben. Seit Ende September hüllt sie sich in Schneemäntel von unterschiedlicher Beschaffenheit, edle Stücke aus Prismen und Plättchen. Straßenlaternen verzieren die Säume mit orangefarbenen Punkten. Ich

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