Export A
Schuldgefühle treiben ihn dorthin, wo das Schulgebäude lacht, gelb und warm wie die liebe Sonne, wo Lehrerlob und Gedankenspielchen (»Lernen«) den Vormittag ausfüllen. Ein kurzer Ruck fährt durch meine Wirbelsäule. Um ein Haar wäre ich aufgestanden.
Beinahe bin ich versucht, es mit dem Biest, das draußen in den Baumschatten lauert, aufzunehmen. Ich muss nur die Haustür öffnen, schon stürmt es mit voller Wucht herein, dringt mir durch alle Poren und hinterlässt eisige Spuren in den Nasenhöhlen. Ein Kampf um jedes Grad Körperwärme bricht aus. Meine Oberschenkelmuskeln mobilisieren jede Faser zum Angriff. Jeder Schritt ein Riss. Notprogramme werden hochgefahren. Ich begrüße freudig die Abgaswolken vorbeifahrender Autos. Sie sind warm. Haarsträhnen, die vorwitzig aus der Mütze kriechen, verwandeln sich in schulterlange Eiszapfen.
45 Minuten Fußweg für ein bisschen Wärme. 45 Minuten, um das zu erfüllen, was andere als meine Pflicht ansehen. 45 Minuten, um mein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Aber nicht heute. Heute geht’s wirklich nicht …
Josh (überrascht): »Hey Lis’!«
Ich (froh): »Hey.«
Josh (mit einem Hauch von Besorgnis in der Stimme): »You’re not at school?«
Ich (stolz und trotzig): »I’m not going.«
Leises Kopfschütteln. Er zögert.
»You wanna smoke something?«
Ich (aufgeregt): »Yes, sure!«
Joshs Erscheinen auf der Treppe verändert alles.
Zeit wird nebensächlich. Neben ihm lache ich über den Vormittag, der sich mit seinen Pflichten wichtigmachen wollte. Die Prioritäten haben sich geändert, der mahnende Zeiger der Uhr besitzt keine Autorität mehr. Niemand macht mir Vorwürfe wegen »Nichtstuns«. Ich erfülle meine wichtigste Aufgabe: Ich erlebe.
Dafür brauche ich kein Gewissen.
Die Zeit ist nicht länger die weiße Scheibe, das runde Auge mit dem Wimpernkranz aus Minuten, endlich zeigt sie ihr wahres, unteilbares, unermessliches, ewig überfließendes Gesicht. Das bis zum Ermüden wiederholte, gleichförmige Tick-Tack ist vergessen, von den Kirchtürmen schlagen die Glocken im Takt meines Herzens. Mir ist feierlich zumute. Jetzt, jetzt bin ich lebendig!
Ganz von selbst gleite ich auf dem hellen Teppich die Stufen hinab, den Gang entlang und durch die Tür.
Bei Josh ist es immer warm. Die Sonne mag auf- und untergehen wie sie will, in seinem Reich verändert sich das Licht kaum. Dicht unter der Zimmerdecke ist ein winziges Fenster von der großen Amerika-Flagge verdeckt, dieser rot-weiß gestreiften, mit Sternen bestickten Augenklappe, die das Eindringen jeder Lichteinstrahlung verhindert. Schwarze Buchstaben aus der Spraydose beschmutzen die amerikanische Ehre und verkünden »American’s suck«.
Nicht alle Hausbesucher können der Versuchung widerstehen, sich über den Apostrophfehler lustig zu machen, was regelmäßig für angespannte Stimmung sorgt … Dennoch bleiben Flagge und Fehler unverändert am Ort. Keine Scham, keine Korrektur.
An den übrigen Wänden hängen die üblichen Tripposter im DIN -A2-Format. Muster, Wellen, Kreise und Blubberblasen, farbige Strudel, aus denen magische Pilze und scharfzackige Hanfblätter wachsen. Das Berühren des Lichtschalters ist tabu. Joints und Pfeifenköpfe glimmen rötlich, Feuerzeuge flackern auf, das Licht der Wärmelampe im Wandschrank zeichnet dessen Ritzen nach und verrät Joshs Eigenanbau-Versuche, die allerdings an den Kontrollbesuchen des Vermieters scheitern sollten. Keines der empfindlichen Pflänzchen überlebte die Evakuierung und das darauf folgende Exil. Graham, ein Freund des Hauses, der sich bereit erklärt hatte, den Pflanzen Asyl zu gewähren, konnte ihnen nur noch beim Sterben zusehen. Der weißlich-violette Schrankritzenschein und die blaue, sich über die Möbel windende Lichtschlange sind die einzigen stetigen Lichtquellen.
Wir sitzen einander auf zwei Sesseln gegenüber. Ich inhaliere den Moment bis in die Spitzen meiner Lungenflügel und tauche ab, mit ten in die bläulich dunkle Gegenwart. Meine Haut ist ein Schwamm. Jede Pore ist gierig, saugt alles, was sie kriegen kann, in sich hinein. Das Blut kreiselt und strudelt und kitzelt meine Adern, fließt kribbelnd durch alles Gewebe. Alles kreist.
Diese Finger zu kontrollieren, sie den Punkt, den ich anvisiere, treffen zu lassen, ist längst nicht mehr möglich. Ich gebe es mit Leich tigkeit auf. Meine Aufmerksamkeit gehört meinem Gegenüber, dem Zeitverschieber, dem Uhrenzertrümmerer, dem Helden für diesen
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