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Extraleben - Trilogie

Extraleben - Trilogie

Titel: Extraleben - Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constantin Gillies
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diesen Dummydörfern in Nevada. Nur ein Junge rennt mit Reklamezetteln unterm Arm den Bürgersteig entlang, vorbei an Häusern, die nach dem Krieg hektisch hochgezogen und von außen gefliest wurden. Und wahrscheinlich auch von innen, inklusive dem Schändungs-Stübchen im Keller. Ich muss an der Fußgängerampel anhalten, um den Zettelverteiler rüberzulassen. Auf der Ecke, beim Gasthof Zur Linde, sind alle Rollläden runtergekurbelt, genau wie bei fast allen Geschäften an der Kreuzung.
    »Zu vermieten« steht auf dem Schild im Fenster der Lottoannahmestelle. Dahinter gähnt der ausgeräumte Verkaufsraum wie eine Höhle. Das einzige Licht brennt an der Zockhalle Las Vegas, Merkur-Sektor halt. Blaue und gelbe Neonröhren schlängeln sich über die Backsteinfassade. die Fugen sind schwarz vom ständigen Rußregen. Grün. Die Geisterbahn fährt weiter. Das nächste Dorf, noch mehr geflieste Fassaden, noch weniger Leben. Auch hier ist alles verrammelt. Geschlossen: die Grillstube Mykonos, das Ital. Eis Café Adria. Bizarr, die Namen der Läden klingen wie aus einem Lied von Udo Jürgens. Vor dem letzten offenen Kiosk steht eine junge Frau mitten im Regen. Sie trägt geringelte Leggings und Adiletten, nein, es sind nicht mal echte Adiletten, dafür sind zu viele Streifen drauf. Es sind Fälschungen. Ihre linke Hand umkrampft eine Aldi-Tüte, während sie mit der anderen ein Minifläschchen Mariacron ansetzt. Ganz langsam und zittrig. Auf der Litfasssäule neben ihr steht in neongelben Buchstaben Erotik-Messe. Schnell weiterfahren. Seit der Sache mit Irving vor zwei Wochen haben Nick und ich nicht mehr miteinander geredet. Vielleicht, weil wir uns einfach nicht an dieses Bild erinnern wollen, an Irvings blasse Wade auf der Bühne. Schwachsinn. Das stimmt nicht, oder höchstens zum Teil. Wir haben auch sonst kaum noch was miteinander zu tun. Klar werden wir immer Freunde bleiben, irgendwie. Nach mehr als zwanzig Jahren kann man ja nicht so mir-nichts-dir-nichts einfach alle Brücken abbrechen. Aber das Kumpel-Ding funktioniert einfach nicht mehr, seit wir einen richtigen Job haben. Seit uns eine gewisse Datacorp Ltd. jeden Monat unser Beratungshonorar überweist - so steht es als Verwendungszweck auf dem Kontoauszug -, ist Nick einfach nicht mehr derselbe. Er nimmt alles viel zu ernst, rafft nicht, wie banal das ganze Business im Grunde genommen abläuft. Manchmal habe ich das Gefühl, er hat sein ganzes Leben nur darauf gewartet, Angestellter werden zu können, endlich deutscher Mitläufer zu sein, Teil von etwas Großem. Dabei war er bis vor zwei Jahren noch der Prototyp des Selbstdenkers, jemand, der nach den Regeln des Tech Model Railroad Club lebte: Informationen müssen frei sein; was zählt, ist nicht, wer du bist, sondern wie cool dein Hack ist; stelle jede Autorität infrage. Mittlerweile kann man dabei zugucken, wie dieses Credo langsam zerbröselt, mit jedem Monat, in dem das Gehalt auf seinem Konto eingeht. Schade. Er hat die Freiheit wohl doch nicht so sehr geliebt.
    »Mensch, das ist die R-i-e-s-e-n-c-h-a-n-c-e!«, hatte er mir ins Gesicht gebrüllt, als wir uns letztens mal wieder darüber gestritten haben, wer der größere Spießer ist (er natürlich). Und wie immer hat er mich mit seiner messerscharfen Spock-Logik in Grund und Boden gestampft: »Wie viele abgebrochene Informatiker (da meinte er sich) oder Volkswirte (da meinte er mich) bekommen schon die Chance, mit Mitte Dreißig noch bei einem internationalen Konzern anzufangen? «
    Okay, stimmt, aber man muss es doch nicht gleich übertreiben und seine eigenen Gedanken an der Garderobe abgeben. Doch Nick ist Nick, und Nick ist Nerd, und Nerds wollen das Spiel besser spielen als alle anderen - selbst als die Leute, die es programmiert haben. Und meistens gelingt ihnen das sogar, eben weil sie keine Zeit damit verschwenden, im Straßencafé Frauen anzugaffen. Deshalb ist es nur logisch, dass Nick, nachdem er jahrelang der perfekte Retrogamer war, nun den perfekten Angestellten gibt. Das alte Ziel war, Operation Thunder mit einer Mark durchzuspielen; das neue Ziel lautet, Angestellter des Monats zu werden - und zwar jeden Monat. Was ein guter Angestellter wissen muss, hat er sich natürlich schon draufgeschafft. Stundenlang doziert er über den geldwerten Vorteil eines Dienstwagens, weiß, in welcher Steuerklasse er ist - bis vor zwei Jahren kein Thema für uns, weil wir keine zahlten -, oder er schwadroniert bis zum Erbrechen über seine

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