Extraleben - Trilogie
wenn eben nicht alle Originalversionen eines Computerspiels, wie wir bislang angenommen haben, völlig identisch sind? In diesem Fall bringen einem all die perfekten Klone im Netz nichts, dann gibt es nur noch einen Weg - zurück zur Quelle. Nur dass die mittlerweile ausgetrocknet ist. Erst letztens haben wir eine eingeschweißte Packung mit 5,25-Inch-Disketten aufgemacht, bei denen sich die Magnetschicht in Staub aufgelöst hatte. Da fiel uns mal wieder auf, wie hoch in unserem digitalen Venedig schon das Wasser steht. Klar gibt es ab und zu auf den Flohmärkten im Netz noch Originalspiele zu kaufen, aber mit jedem heißen Sommer und jedem kalten Winter, die an der Magnetschicht knabbern, sinken die Chancen, dass die Dinger auch fehlerfrei laufen. Das alles hat Nick längst abgewogen. „Ich denke, die besten Chancen haben wir mit alten ROMs oder EPROMs, die haben eine längere Lebensdauer als Floppys oder Tapes.«
Es tut mir leid, aber hier ist langsam mal ein Realitäts-Check angesagt. „Und wo willst du bitteschön Hunderte von alten Cartridges herkriegen, obendrein noch billig?«
Als habe er nur auf diesen Einwand gewartet, lässt Nick sich die Worte auf der Zunge zergehen. „Ich sage nur: Atari Landfill.« „Der E. T.-Friedhof? Ich dachte, das ist eine Legende?« „Nee, nee«, grinst Nick. Aha, er weiß mal wieder was, was ich nicht weiß. Aber was soll's: Erfolgloser kann der Trip ohnehin nicht werden. Also grinse ich zurück und fische, ohne ein Wort zu sagen, die USA-Karte aus dem Handschuhfach. Unser neues Ziel heißt Alamogordo/New Mexico. Ich drücke meinen Daumen auf die Karte, jeder Abdruck sind 60 Meilen oder eine Stunde Fahrt, wenn wir nicht gerade über die kleinen Staatsstraßen zuckeln. Eins, zwei, drei, vier - für diese Monsterstrecke reicht die Daumenmethode nicht aus. Ich muss die Karte ganz aufklappen und schätzen: Also, zurück nach Kansas City, dann weiter durch Oklahoma, ein Stück durch Texas und rein nach New Mexico - quasi einmal mitten durch den nordamerikanischen Kontinent. Das müssen über 1000 Meilen sein. Um die Stimmung nicht zu drücken, schätze ich mal optimistisch. „Wir könnten in drei Tagen da sein.« „We're there, dudel«, sagt Nick und hält mir die Hand zum Highfive hin. Ich schlage ein. „Alles klar.«
Zwei Stunden später hat uns die Interstate zurück, eine dieser seelenlosen Betonschlangen. unter denen in den Siebzigern die meisten alten Fernstraßen verschwunden sind. Auf dem Highway mag die Hölle los gewesen sein, hier ist die Hölle. Keine Kreuzungen, keine Häuser oder Autowracks am Straßenrand, keine Spur vom alten Amerika, nur schnelles und sicheres Reisen. Nicht mal angefahrene Tiere liegen herum, weil hohe Zäune die Landschaft von den Fahrspuren abschirmen. Das ist natürlich toll und supersicher, aber auch ein bisschen schade, schließlich sind die Kadaver am Straßenrand oft unser einziger Kontakt zur lokalen Tierwelt. Oder wie häufig sieht man beim Kaffeekaufen schon ein echtes Gürteltier? Wir biegen auf den Parkplatz der Truckertanke Flying-J ein, machen den Wagen voll und holen eine Tüte Milch, weil ich nach drei Tagen Fastfood das Gefühl habe, etwas Gesundes trinken zu müssen. Es gab nur Großpackungen, und so zuckeln wir mit einer halben Gallone Milch auf der Interstate in den Sonnenuntergang. Jetzt, da es erst mal nichts mehr zu sehen oder zu sagen gibt, ziehen sich die Meilen wie Kaugummi hin, und jeder beschäftigt sich, so gut es geht, mit sich selbst. Nicks Spielzeug der Wahl - nachdem ich wieder das Steuer übernommen habe - ist das Radio: Da kann er stundenlang am Equalizer rumprokeln oder endlos den Sendersuchlauf abfahren; als Kind muss er echt pflegeleicht gewesen sein. Er schaue mal, ob es irgendwo »Classic Rock« gäbe, hat er vor einer halben Stunde gesagt; seitdem schraubt er. Eigentlich hören wir ja unterwegs nur Country Music, obwohl uns das zuhause im Leben nicht einfallen würde. Aber hier passt es irgendwie. Bei Country sind die Botschaften so angenehm einfach: Irgendein Dick, Jack oder Skip mit Stetson singt davon, dass ein fremder Pick-up in seiner Einfahrt parkt, während seine Dame allein zuhause ist. Oder freut sich einfach nur: »She thinks my tractor's sexy.«
Ungefähr eine Stunde halten wir diese heile Welt aus, dann gehen uns das Gefiedel und die Achy-breakyhe art-Texte tierisch auf den Zeiger, und wir schalten auf einen Sender mit Classic Rock um - eine weitere Musikrichtung, die wir daheim niemals
Weitere Kostenlose Bücher