Extraleben - Trilogie
September 1983-Es ist ein ruhiger Freitagnachmittag in Alamogordo, als die ersten Lastwagen in die Hauptstraße einbiegen ...«
Da die Meilen nicht gerade fliegen und ich kein weiteres Mal »Black Magic Woman« ertragen könnte, drehe ich das Radio leiser, schraube den Sitz ein wenig zurück und lasse mich widerstandslos von meinem Beifahrer berieseln. Also, die Geschichte geht so: Im Rathaus von Alamogordo, New Mexiko, findet gerade eine Gemeindeversammlung statt, als ein ganz besonderer Transport durch das Städtchen zuckelt. Zunächst sind es nur acht schwere, neunachsige Gespanne, die quer durch die Innenstadt Richtung Süden rumpeln - später wird der Bürgermeister in einem Interview aussagen, nichts vom Donnern der Trucks gehört zu haben. Nach dieser Vorhut folgen mindestens noch einmal so viele Lastwagen, manche Augenzeugen behaupten sogar, es seien insgesamt zwanzig gewesen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt noch niemand in Alamogordo, dass dieser Nacht-und- Nebel-Transport ihr Örtchen berühmt machen würde. Denn die Ladung der Lkw ist hoch brisant: Kisten über Kisten voller Videospiel-Module. Die ROM-Cartridges stammen von niemand anderem als Atari, dem damaligen Giganten der Gamebranche, der zu diesem Zeitpunkt mit seiner Heimkonsole Video Computer System den Markt noch völlig beherrscht. Der Konzern karrt die Spiele aus seinem Lagerhaus im texanischen EI Paso nach Alamogordo, um sie hier heimlich vergraben zu lassen. Es sind Tausende von Modulen, vor allem die Titel Raiders of the Lost Ark, Pac-Man - und E.T., das Spiel zum gleichnamigen Film, das bis heute als das schlechteste Game aller Zeiten gilt. In der Wüste New Mexicos sollen die angeblich defekten Plastikkästchen ihre letzte Ruhe finden, in aller Stille, unbemerkt von Rest der Welt, so lautet der geheime Plan von Atari. Damit möglichst schnell Gras über die Sache wächst, wird ein örtliches Entsorgungsunternehmen damit beauftragt, die Kartons auf der Müllkippe nicht nur abzuladen, sondern gleich in einem eigens ausgehobenen Graben zu verscharren und mit Beton zu bedecken. Und zunächst sieht alles danach aus, als ob der Plan aufginge: Die Trucks rollen heran, eine Ladung nach der anderen verschwindet unter der Erde. Unbemerkt von Rest der Welt entsteht so in der Nacht von 22.auf den 23.September 1983 in der Wüste der südöstlichen Vereinigten Staaten von Amerika ein gigantisches Mausoleum der 8-Bit-Ära. Wie konnte es so weit kommen? Wahrscheinlich war das Begräbnis einfach unvermeidlich, der überfällige Exorzismus einer von Videospielen besessenen Welt. Von dem Moment an, in dem Atari Anfang der Siebziger den ersten legendären Pong-Automaten aufgestellt hatte, walzte das neue Medium alles nieder, bis die Begeisterung für Bits und Bytes zehn Jahre später ein Ausmaß erreichte, den erst der Internethype später toppen sollte. 1981 bis 1984, das war das Goldene Zeitalter der Videospiele: Innerhalb von wenigen Jahren erschienen fast alle Klassiker des Genres in den Spielhallen: Asteroids, Centipede, Pac-Man , Defender, Donkey Kong - Spiele, deren Ideen - da sind Nick und ich uns einig - bis heute unübertroffen sind. Besonders heftig brach das Videospielfieber im Amerika aus: Hier hatte jeder Pizza Hut, jedes Holiday Inn und jeder Ferienclub einen Videospielraum eröffnet, mit bordeauxrotem Teppich und wahnsinnig hippen Schwarzlicht-Lampen. Wallstreet-Mogule drängten sich neben Vorstadtkids in den Arcaden, während eine Band namens Buckner & Garcia mit ihrem Song »Pac-Man Fever« die US-Charts eroberte; ihre Nachfolgesingle »Do the Donkey Kong« dagegen floppte. In Japan drohten sogar 100-Yen-Münzen knapp zu werden, weil die Jugend fast den gesamten Hartgeldbestand in Space Invaders -Automaten geworfen hatte.
»Weißte noch, der erste Galaxian im Hit?«, unterbricht Nick seine Vorlesung für einen kleinen Nostalgiesnack. Natürlich weiß ich noch: Zunächst sah es so aus, als würde diese Revolution an unserer rheinischen Trabantenstadt vorbeigehen. Man hatte von der Videospielwelle gehört; zu sehen war sie bei uns in der Provinz noch nicht. Bis eines Tages im Sommer 1983 auf dem Schulhof die Nachricht einschlug: »Ey, im Hit gibt's nen Zockautomaten! «
Der Hit, das war ein seelenloser SB-Markt, um den sich damals unser Alltag drehte. Fast jeden Tag nach der Schule fuhren wir da hin, zwei quälend lange Kilometer mit unseren Skateboards, unter die wir Keith-Haring-Männchen gemalt hatten - nur um dann vor dem Haupteingang
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