Extraleben - Trilogie
die röhrende Klimaanlage schlucken seine Antwort, aus der ich nur das Wort »Familie« heraushören kann. War wohl nichts Wichtiges. Da ich im Moment definitiv nichts tun kann, schalte ich den Fernseher ein - und gleich wieder aus, denn, das hatte ich ganz vergessen, es läuft ja nichts. Wenn ich jetzt wählen könnte, würde ich mir »Bullit« mit Steve McQueen wünschen. Stattdessen blättere ich eine alte Ausgabe der »Palo Verde Valley Times« durch, in der unter anderem zu lesen ist, dass der Besitzer einer Achterbahn auf irgendeinem County Fair zu Tode kam, als er mit seinem Bart in das Fahrgestell der Bahn geriet und fast 100 Meter mitgeschleift wurde. Nach einer halben Stunde dumpfen Brütens vor dem Rechner meldet sich Nick wieder zu Wort: »So: Wir haben zwei Fehler gemacht. Erstens braucht die Maschine einen Bootstrap-Loader, und zweitens dachten wir, die Daten auf dem Lochstreifen seien in ASCII codiert. Doch die Mainframes von Digital waren für den Betrieb mit einer Telexmaschine ausgelegt, die einen anderen Code verwendet. Lässt sich aber einfach umrechnen: Teletypeminus 200 gleich ASCII.«
Ich mache mir nicht die Mühe, eine Erklärung abzurufen.
»Und?«
»Auf dem Band hat jemand, wenig überraschend, ein Spiel gespeichert, und zwar Moonlander - exakt wie es Anfang der Siebziger auf einem PDP-11 mit GT40-Vectordisplay gelaufen ist. Scheint im Großen und Ganzen mit Lunar Lander von Atari identisch zu sein. Nicht gerade Splinter Cell, also.«
Den echten Retromanen erkennt man daran, dass selbst die Referenzgrößen von gestern sind. Mit der längst zum Ritual gewordenen Bewegung dreht Nick den Monitor zu mir um, allerdings klingt der imaginäre Trommelwirbel schon etwas müde. Er hat das Programm auf dem Lochstreifen also tatsächlich ans Laufen gekriegt. Quer über den schwarzen Bildschirm zieht sich eine feine weiße Linie, wie eine Herzkurve. Sie zeichnet einen kleinen Hügel nach, dann einen gewaltigen Gipfel, gefolgt von zwei kleinen Spitzen, die in eine Ebene übergehen. Am oberen Monitorrand schwebt eine kleine Mond-Landefähre, die mit ihren dünnen Beinchen wie eine Spinne aussieht. Daneben stehen Zahlenkolonnen und Worte wie FUEL und DISTANCE. Kein Wunder, dass wir keinen Text gefunden haben: Da das Spiel Vektorgrafik benutzt, existiert Schrift nur als Haufen von X/V-Koordinaten. Moonlander - da haben die Herren von der Datacorp ihre nächste Botschaft ja in einem echtem Klassiker aus der optimistischen Astro-Ära versteckt. Und auch die Hardware, auf dem das Spiel mal lief, könnte ganz gut in das Rechenzentrum der NASA passen: ein alter Großrechner, wie er lange Zeit nur bei Banken, Versicherungen und Behörden im Keller stand. Gegen diesen Dinosaurier waren unsere Atari-Konsolen die reinsten Amöben. Nick zeigt mir im Netz ein Bild, auf dem die monströse Maschine abgebildet ist: ein Gigant, mindestens so hoch wie das höchste Billy-Regal von Ikea. Wer sich dem Monster entgegenstellt, dem streckt es eine abweisende schwarze Frontplatte und zwei Bandlaufwerke entgegen. Schalter in psychedelischem Orange und Violett reihen sich am Sockel auf. in den gleichen Farben prangt ein Firmenlogo am Kopf der Maschine: |d|i|g|i|t|a|l. Jeder Zentimeter dieses Giganten scheint nur eines zu sagen: Finger weg! Kein Knuddel-Design wie bei den iMacs der Neunzigerjahre biedert sich an, kein quietschbuntes User Interface lädt zum Probieren ein. Was hier steht, ist ein Werkzeug, genau wie eine Schrottpresse oder ein Partikelbeschleuniger, so lautet die Ansage. Und wie verkauft man so eine gewaltige Masse Vernunft, so viel industrielle Strenge? Mit einem Spiel natürlich: Moonlander. Anfang der Siebziger ließ DEC das Game als Demo auf Industriemessen laufen. Am Messestand war ein Terminal aufgebaut, an dem die vorbeiflanierenden EDV-Leiter mit einem Lichtstift die Landefähre auf dem Monitor steuern konnten. Der Trick funktionierte: Die Computer, so teuer wie ein kleines Eigenheim, wurden ein Verkaufsschlager. Selbst Anfang der Nuller brummten noch eine halbe Million der Monster in Rechenzentren rund um die Welt vor sich hin. Diesen ehemaligen Koloss zu imitieren kostet unseren Rechner wahrscheinlich nicht mehr Power, als den Ladestandsbalken des Akkus einzublenden. Im Gegenteil, der Emulator muss wie wahnsinnig Leerzyklen einbauen, damit nicht alles auf dem Bildschirm nur so vorbeirast. Wir beschließen, uns den Spielspaß bis morgen aufzusparen.
LEVEL 20
»Hey, schon halb sieben, wir haben nicht
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