Extraleben
Auflegen und allem Drum und Dran eine Minute. Ergibt eine Lesegeschwindigkeit von sage und schreibe zwei Byte pro Sekunde! « Er fängt an, hysterisch zu gackern. Nicht gut. Ihm scheint die vorgetäuschte Ernsthaftigkeit, mit der wir unsere Forschungsreisen traditionell betreiben, langsam abhanden zukommen. Mich interessiert an der Rechnung eher der Zeitfaktor. schließlich wollen wir in drei Tagen in L.A. abfliegen. Wenn die Schätzungen richtig sind, hätten wir in ein paar Stunden den gesamten Streifen ausgelesen. Sei technisch alles kein Problem, meinte Nick, zumal das Papier so frisch und weiß aussehe, als sei es gerade aus der Fabrik gekommen. Wer die hirnverbrannte Aufgabe übernehmen darf, den meterlangen Streifen Stückchen für Stückchen durch den Scanner zu ziehen, haben wir schon gestern Abend beim Bierdosen-in-den-Papierkorb-Werfen ermittelt. Ich finde, dass die Bedeutung der Auge-Hand-Koordination insgesamt überschätzt wird. Während ich, der Scan-Sklave, im dunklen Zimmer auf dem Boden kauere, kippelt Nick draußen vor der Moteltür mit dem Stuhl gegen die Klimaanlage, wobei er peinlich genau darauf achtet, mit keinem Teil seines Körpers in die Sonne zu kommen. Er schiebt gelangweilt seine Dose Mountain Dew mit dem Fuß hin und her. Aus Langeweile habe ich eine Diskussion darüber angestiftet, wer ein wirklich cooler Amerikaner ist oder war. »Also, Burt steht auf jeden Fall auf der Liste, das ist ja mal klar. Dann natürlich noch Rick Simon, der Coole aus Simon & Simon«, meint Nick sehr bestimmt. Zu dem Namen fallen mir nur das WWF-Vorabendprogramm und ein gigantisches Paar Koteletten ein. Mein Beifahrer scheint sich mit der Serie intensiver beschäftigt zu haben. »Ein echtes Raubein!«, belehrt er mich. Zum ersten Mal seit Tagen macht er länger als fünf Minuten einen zufriedenen Eindruck, fast so, als könne er unsere Ankunft in L.A. und damit das Ende unserer Reise kaum erwarten. Da der moteleigene Pool selbstverständlich kein Wasser enthält, bleibt uns nichts anderes übrig, als in bester Asi-Manier in und vor unserem Zimmer abzuhängen. Wir stecken in Blythe fest, einem Dreckskaff, das seine Existenz überwiegend der Interstate 40 verdankt, die tagtäglich Tausende von Trucks aus Arizona nach Kalifornien rüberschaufelt. Theoretisch hätten wir längst nach L.A. reinfahren können, aber irgendwie erschien es uns unangemessen, bevor wir das große Geheimnis gelöst haben. Also sitzen wir hier, ich scanne und brüte weiter über der Liste der coolsten Amerikaner. »Jonathan Hart?« »Lee Majors?«, sagt Nick und bewegt, begleitet von einem »Tsch-tsch-tsch« seinen Arm in Zeitlupe nach vorne. »Ah, der inflationsbereinigte Fünfzehn-Komma-zwei-Millionen-Dollar Mann.« Mein Ökonomenwitz verhallt unkommentiert. Schon nach wenigen Minuten wird klar, dass wir den Aufwand, die Lochkarten einzuscannen, brutal unterschätzt haben; das ist ein echter Job für Analfixierte: Jeder Streifen muss millimetergenau gleich auf den Scanner gelegt werden, sonst findet Nicks selbst gestrickte Bildverarbeitung nicht das erste Loch sprich Bit, und nachher fehlen Daten im Programm. Außerdem darf nicht aus Versehen die gleiche Zeile zweimal gescannt werden. Als Hilfe habe ich Klebestreifen auf dem Scannerglas verteilt und streiche außerdem jedes gelesene Teilstück mit Bleistift durch. Trotzdem ist nach zwei Stunden gerade mal die Hälfte von schätzungsweise 13 Kilobyte gescannt. Dabei könnte mein Teint durchaus auch ein wenig Wüstensonne vertragen; wir sehen nach den Wochen auf der Straße aus wie Engerlinge. Mist. Die Aussicht darauf, im Endeffekt vielleicht nur die Gehaltsabrechnung des Datacorp-Pförtners von 1974 zu finden, hebt die Stimmung auch nicht gerade. Besser gesagt: meine Stimmung. Nick hat das Analyseprogramm beneidenswerterweise schon vor dem Frühstück fertig gehabt und genießt den Ausblick auf den leeren Parkplatz. Ich dagegen habe die Lochkarte gezogen. Mit der Amerikaner-Liste geht es nicht richtig voran, deshalb gebe ich ein neues Stichwort: »Der geilste Retro-Cheat aller Zeiten. « Das ist Nicks Hometurf, und er beißt sofort an: »Zunächst einmal wäre da der Klassiker ...« Also alles, was in seiner Jugend cool war. » ... Space Invaders: Wenn du mit dem dreißigsten Schuss das UFO erledigst, kriegst du 300 statt 50 Punkte. Der Trick funktioniert, habe ich selbst im Emu mal ausprobiert.« Gelobt seien Emulatoren. Cheats in der Spielhalle auszuprobieren hätten wir uns früher
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