Extraleben
Coffeeshop-Ruinen zu urteilen, die im Westen die Highways säumen, müssen die Läden in den Sechzigern so beliebt gewesen sein wie Starbucks in den Nullern. Ihre Architektur ist völlig uniform und lässt sich mit zwei Worten beschreiben: Playboy Mansion. Junggesellen-Architektur aus den Sechzigern, ein Love Shack, wie es Austin Powers gefallen würde. Sofort nach dem Reinkommen spürt man das dringende Bedürfnis, eine Scheibe von Esquivel aufzulegen. Groovy Baby! Als Blickfang ist die dem Highway ab gewandte Seite meist mit Natursteinen verkleidet. Zur Straße hin erstreckt sich eine Glasfront, hinter der die Gäste in den Sitzecken einen perfekten Ausblick auf die vorbeifahrenden 68er Mustangs haben. Für eilige Kunden wie Hugh Hefner oder - natürlich - Burt Reynolds, die ein junges Ding im Wagen warten haben, gibt es eine Theke mit Barhockern direkt vor der Küchendurchreiche. Darüber hängt immer eine Art Leiste mit beleuchteten Nummern von eins bis zwanzig, so wie die Lieder-Anzeige in der Kirche, die wir allerdings noch nie in Funktion gesehen haben. »1969« - dem Copyright-Vermerk am Bildschirmrand nach zu urteilen passt Nicks Lektüre perfekt zum Baujahr des Ladens. Auf dem Weg zur Toilette fallen mir beim Blick auf den Monitor Worte wie Interlocked Communication, Autoincrement Addressing oder Line Frequency Clock ins Auge - mindestens so schwere Kost wie sein Sandwich. So wie unsere Eltern seinerzeit ernsthaft gesagt haben, etwas sei »eine Wolke«, wenn sie cool meinten, scheinen die Geeks damals einen eigenen Code gepflegt zu haben. Ich finde es von Nick irgendwie nerdmäßig, sich das reinzutun, obwohl wir noch gar nicht sicher sind, dass das Programm auf dem Lochstreifen wirklich für einen PDP ist. Vielleicht hat er auch einfach keine Lust zu reden; allerdings brauchte er früher dafür keinen Rechner, da haben wir uns ganz selbstverständlich angeschwiegen. Ohne weitere Kommunikation nehmen wir Kohlenhydrate auf. Nach dem letzten Bissen reißt uns die Kellnerin unsere Teller unter den Fingern weg. Wie überall scheint auch in hier zu gelten: Je besser das Restaurant, desto schneller wird abgeräumt. Ich lasse großzügige 30 Prozent Trinkgeld auf dem Tisch in der Hoffnung, dass ein wenig bis zum Empfangsmädel durchsickert. Zurück in unserem Motelzimmer müssen wir feststellen, dass es uns die Datacorp diesmal nicht so leicht macht: Unser Plan, die Lochkarten mithilfe von Scans auszulesen, funktioniert zwar perfekt - Nicks selbst gestricktes Programm hat die 12062 Byte in ein paar Sekunden ausgelesen -, doch danach ist erst mal Schluss. Wir stehen vor einem Datenhaufen und wissen nichts damit anzufangen. Alle bisherigen Tricks sind schnell durchprobiert: Es gibt keine chiffrierten Texte, keine geheimen Botschaften in einer Grafik, nur Bits und Bytes. Anscheinend ist das Programm in reiner Maschinensprache geschrieben, enthält keinen Quelltext. der leicht zu entziffern wäre. So, wie es aussieht, werden wir uns wohl ernsthaft mit Inhalten auseinandersetzen müssen. Mit einem schlechten Gefühl dringen wir auf echtes Geekterritorium vor. Für welchen Großrechner wurde die Software geschrieben? Die Frage werden wir wohl nur mit Rumprobieren lösen können. Also ziehen wir alle verfügbaren Simulationsprogramme aus dem Netz, die es für DEC-Computer gibt, vom 12- bis zum 36-Bit-Rechner, und installieren die komplizierten Programme ohne Erfolg: Keiner der Emulatoren kann mit dem Code etwas anfangen. Ich unternehme einen Trip zur Eisbox, während Nick schlecht gelaunt wieder das PDP-Handbuch öffnet. Selbst ihm scheint die Sache langsam etwas zu ernst zu werden. Einen Abend, den man auch auf zwei Monoblocks vor dem Motelzimmer verbringen könnte, irgendwelchen dreißig Jahre alten Handbüchern zu widmen, passt sogar ihm nicht. Überhaupt: Handbücher lesen. Aus Nevada rollen im Kofferraum noch ein paar Bierdosen der Marke Schlitz herum, vielleicht kriegen wir die ja auf unter 20 Grad gekühlt? Die Nacht ist klar, und ich hocke mich mitten auf dem Parkplatz kurz auf einen der Randsteine. Jetzt, wo sich die Dunkelheit über die Schmierigkeit gelegt hat, macht Blythe gar keinen so schlechten Eindruck mehr. Morgen Abend kommen wir in L.A. an, danach vergehen die letzten Tage erfahrungsgemäß in Sekunden. Haben wir es diesmal übertrieben? Vielleicht nehme ich die ganze Datacorp-Sache zu ernst. Aus unserer Generation-X-Karikatur einer Forschungsreise droht langsam eine echte zu werden. Als ich mit den
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