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Extraleben

Extraleben

Titel: Extraleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constantin Gillies
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scheint unweigerlich näher zu rücken: Aus der Ferne ist von Black Ridge II erst mal nur eine riesige Radarkuppel zu erkennen, ein weißer Ball mitten auf einem Felsplateau. Um sie herum stehen drei haushohe Autokino-Leinwände oder zumindest etwas, das so aussieht; Unterkünfte oder so lassen sich von hier unten noch nicht ausmachen. Vor lauter Vorfreude lege ich noch einen Schritt zu. Nach weiteren zehn Minuten ist es mit dem gemütlichen Schlendern vorbei: Der gefürchtete Teil, wo es bergauf geht, beginnt, und von einer Minute auf die andere verwandelt sich die liebliche Auenlandschaft in eine feindliche Steinwüste. Plötzlich tun sich zwischen den Hügeln kleine Schluchten auf und zwingen mich, so etwas wie Routenplanung einzuführen: ein paar Hundert Meter links am Fuß des Berges vorbei, dann dem weniger steilen Grat Richtung Gipfel folgen. Mit jedem Höhenmeter wird der Aufstieg steiler, brennen die nach zwei Wochen in Auto und Flugzeug verkümmerten Wadenmuskel heftiger. Obendrein weht jetzt ein scharfer Wind vom Eisrand herüber und zwingt mich, das total uncoole gelbe Cape auszupacken. »Ja, aber es ist nur eine trockene Kälte«, kann ich die Goretexaner förmlich belehren hören. Irgendwann geht es nur noch im Kriechtempo weiter: Ein paar Meter Kraxeln, nach oben schauen, den Fortschritt begutachten, dann über die nächsten paar Felsbrocken balancieren - bei diesem Rhythmus kommt die Basis nur in Zeitlupe näher. Ich kriege Seitenstechen und muss zweimal ganz anhalten, um Pause zu machen. Schließlich bin ich doch nahe genug an die Station gekommen, um die ersten Baracken zwischen den Radarinstallationen erkennen zu können. Mit ihren schwarzen Fenstern sehen die grauen Zweckbauten wie das Gebiss eines alten Mannes aus. Da drinnen haben sie also dreißig Jahre lang vor ihren Bildschirmen gesessen und langsam durchgedreht, die Radartechniker der Air Force. Wie antike Torwächter müssen sie sich vorgekommen sein, allein im Dunkel der Nacht, nur wach gehalten von dem Wissen, dass sie allein verhindern können, dass sich der Feind in der Dunkelheit der Nacht heranschleicht und ihre Familien auslöscht. Im Netz sind die Berichte der Dew-Veteranen noch heute zu lesen, Geschichten von hirnaustrocknender Langeweile, von ständigen Panikattacken, wenn ein »Unkown« - meist Sportflieger - in die Maschen der Mikrowellen geriet, von Leere und Frustration. Trotzdem sind sie alle froh, dass der blinkende Punkt auf dem Schirm, für den sie hier oben saßen, niemals auftauchte. In den Sechzigern bauten die Russen dann zum ersten Mal Raketen, die so hoch fliegen konnten, dass sie von Bodenradars nicht zu entdecken waren. Sie machten den elektronischen Limes im hohen Norden überflüssig, und die USA beschlossen, die meisten Stationen abzubauen. Wie sinnlos müssen sich die verbleibenden Wächter in der arktischen Einsamkeit vorgekommen sein? Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Dew-Line endgültig demontiert, meist von Spezialfirmen für heikle Aufträge, weil die alten Stationen randvoll mit Giftmüll sind, Arsen und so. Ich bilde mir ein, den Asbest aus dem schönen Rhodesien schon bis nach hier unten riechen zu können. In Wirklichkeit ist die Luft so klar, wie sie nur an einem Punkt sein kann, der in jede Himmelsrichtung 2000 Kilometer von der nächsten Fabrik entfernt ist. Wäre da bloß nicht das lästige Wandern. Langsam kriege ich einen Black-Butte-Flashback: Der Aufstieg nimmt kein Ende; Bergkamm folgt auf Bergkamm, eine gnadenlose Mauer aus Felsen, und ohne einen Kumpel, vor dem man das Gesicht wahren muss, gebe ich mich meiner schlechten Form hin. Ich gönne mir alle paar Meter eine ausgedehnte Atempause und wedele mit meinem durchnässten T-Shirt. Zwei von drei Müsliriegeln habe ich aufgegessen, mein Wasservorrat, eine Flasche Vittel aus dem Flughafenshop, ist ebenfalls schon halbleer. Was ich jetzt bräuchte, wäre ein Motivationskick - zum Beispiel ein Nick, der sagt: »Wer zuerst oben ankommt, ist der bessere Zocker.« Nach gefühlten anderthalb Stunden steilem Aufstieg, in echt waren es wahrscheinlich nur zwanzig Minuten, lässt die Steigung endlich nach, und anstelle von Felsklumpen liegt jetzt Sportplatzschotter auf dem Weg. Hinter dem nächsten Buckel müsste die Radarstation eigentlich gut zu sehen sein. Das wäre übrigens auch genau die Stelle, wo sonst immer der berühmte Zaun steht, an dem unsere Geheimtrips enden. Nur dass er diesmal nicht kommt. Kein »No Trespassing«- Schild

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