Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
gesehen habe. Groß, kräftig, ja einfach wuchtig kommt er daher. Wie ein Wrestler, der es nicht erwarten kann, endlich in den Ring zu steigen. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben, dass er der dünnen Höhenluft und den steilen Anstiegen bei diesem Rennen überhaupt gewachsen ist. Doch schon auf den ersten Kilometern zeigt er mir, dass er auch ein guter Läufer ist. „Do you like the race so far?“, frage ich ihn. „I love it. But that is just the beginning. We are going to run higher and higher“, gibt er zurück. Und wie recht er damit hat. Irgendwann ist es mit unserem Gespräch vorbei, denn vor lauter Schnaufen bringe ich kein Wort mehr heraus. Ich ziehe wieder alleine weiter. Plötzlich kreuzt eine Herde Yaks den Weg. Imposant und ein wenig Angst einflößend, bewegen sich diese majestätischen Tiere auf mich zu. Erst im letzten Moment gehen sie zur Seite. Ich erreiche wenig später den nächsten Verpflegungsposten. „Are you ok?“, empfangen mich freundliche und zuvorkommende Helfer, die mir Wasser, Kekse und Kartoffeln anbieten. Mir geht es blendend, ich könnte die ganze Welt umarmen. Ich gebe zur Kontrolle meine Unterschrift in der Liste ab. Es stehen auch ein paar neugierige Kinder am Stand, die mich wie einen Außerirdischen anstarren. Einen Mann mit langen, blonden Haaren haben sie wohl noch nicht so häufig hier gesehen. Ich lächle sie an und spreche ein paar Worte auf Indisch, was bei ihnen ein Schmunzeln hervorruft. Dann ziehe ich weiter. Nur noch schlappe zehn Kilometer bis zum heutigen Etappenziel liegen vor dir, denke ich. Doch dieses letzte Teilstück hat es noch einmal gewaltig in sich, denn 1.000 Höhenmeter müssen in diesem Terrain bewältigt werden. Bei europäischen Bergläufen ist in der Regel spätestens bei einer Höhe von 2.700 Metern Schluss. Diese Höhe markiert nun den Beginn des letzten Anstiegs. Zu meiner rechten Seite türmen sich imposant die Achttausender auf. Die Sonne strahlt in voller Pracht und der tiefblaue, wolkenfreie Himmel bildet einen atemberaubenden Kontrast zu diesen schneeweißen Bergkolossen. Was für ein Anblick! So ein starkes und intensives Weiß habe ich noch nie gesehen. Ergriffen und voller Faszination starre ich minutenlang die Berge an. Ich fühle mich, als wäre Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen. Doch diese reizvolle Umgebung sorgt immer nur für kurze Ablenkung zu den körperlichen Strapazen, die ich bei diesem finalen Anstieg erfahre. Ich komme nur unendlich langsam voran. Mir scheint es, als hätte ich Magnete an meinen Fußsohlen, die mir jeden einzelnen Schritt ungemein erschweren. Als würde ich immer nur auf der Stelle treten. Die zunehmende Höhe macht jeden Schritt extrem anstrengend. Ich schnappe regelrecht nach Luft und muss immer wieder für einen kurzen Augenblick stehen bleiben, damit sich mein Puls erholt. Auf einmal ziehen dicke Nebelschwaden auf und lassen den strahlend blauen Himmel urplötzlich verschwinden. Alles um mich herum wird grau. Ich kann kaum mehr zehn Meter weit sehen. Ein frostiger und ungemütlicher Wind weht mir entgegen. Das ist Hochgebirge pur − hier kann sich innerhalb von wenigen Minuten das Wetter komplett ändern. Wie weit ist es wohl noch zum Etappenziel? Drei Kilometer, zwei Kilometer? Mein Höhenmesser zeigt 3.550 Meter, es kann nicht mehr weit sein. Nach jeder Kurve hoffe ich, das Bergdorf zu sehen. Doch jeder Kilometer zieht sich gewaltig in die Länge. Minuten kommen mir wie Stunden vor. Dann habe ich es endlich geschafft und laufe über die Ziellinie in Sandakphu.
Nach jeder Etappe gönne ich mir eine warme Dusche, was bei diesem Lauf in dieser Umgebung durchaus ein Luxusgut darstellt. Denn Dusche ist nicht gleich Dusche. Eine Dusche bedeutet in diesem Bergdorf: einen Eimer Wasser mit einem Becher, den man in einer spartanisch eingerichteten Hütte mehrmals über sich gießt! Was für eine Wohltat! Ich genieße jeden einzelnen Becher Wasser, den ich mir über den Körper schütte. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie man mit einfachen Dingen zufriedenzustellen ist und wie wenig man zum Leben braucht. Keine großen materiellen Güter, keinen Luxus. Am Abend stehen wir dicht gedrängt beim Essen in der Berghütte um den kleinen Ofen. Alle haben warme Mützen und dicke Handschuhe an. Das Feuer knistert und brodelt in der kalten Hütte. Einstellige Minusgrade hat es wohl schon draußen. Ich lerne Jacob aus Dänemark kennen, der schon auf jedem Kontinent läuferisch unterwegs war. Er
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