Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
mehrere Stunden und wollte den Erfolg um fast jeden Preis, auch wenn er wusste, dass er dafür nicht das größte Talent mitbrachte. Mit seinem enormen Willen kompensierte er sein − im Vergleich zu anderen Tennisgrößen an der Weltspitze − fehlendes Talent.
Das Wollen ist für mich der elementarste Faktor, um eine Stärke zu kultivieren. Denn wenn ich eine Sache unbedingt will, dann setze ich mich auch dafür ein, diese Sache gut zu können. Ich eigne mir das nötige Wissen an, besuche Fortbildungen, lese Bücher und trainiere an den Fähigkeiten, die ich brauche, um die Sache gut zu beherrschen. Der Faktor Wollen bedingt also das Können und das Wissen.
Das Ziel beim Ultra-Trail du Mont Blanc habe ich hauptsächlich dadurch erreicht, weil ich es unbedingt wollte. Mir ist das Laufen, so wie ich es betreibe, sicherlich nicht in die Wiege gelegt worden. Ein Extremlauf über 166 Kilometer und 9.400 Höhenmeter ist mit viel Trainingsfleiß, Engagement und Disziplin verbunden. Diese Attribute lassen sich nur umsetzen, wenn man sein großes Ziel mit jeder Faser seines Körpers auch wirklich will. Weil ich eben diesen Lauf um jeden Preis erfolgreich beenden wollte, setzte ich alle Hebel in Bewegung, um körperlich und mental topfit in Chamonix an den Start zu gehen.
Und da sind wir schon bei der dritten Schlüsselfrage. Die erste lautete: „Wer bin ich?“, die zweite „Was kann ich?“ und die dritte heißt: „Was will ich?“ Und dieser Frage habe ich gleich ein ganzes Kapitel gewidmet.
Ich will, ich will, ich will
Ich will − Erfolgsfaktor Nr. 1
Ich bin über den Wolken! Vor mir habe ich eine Aussicht, die mir schier den Atem raubt. Weiße Riesen, die fast senkrecht in den Himmel ragen und diesen berühren zu scheinen. Unglaublich schöne und beeindruckende Formationen aus Fels, Schnee und Eis. Dimensionen, die mit Worten nicht zu beschreiben sind. Bunte Gebetsfahnen flattern im eisigen Wind. Mit meinen kalten Händen klatsche ich immer wieder gegen mein Gesicht, um sicherzustellen, dass dies hier alles Realität ist. Nein, ich träume nicht. Ich bin wahrhaftig hier. Ich stehe mit meinen eigenen Beinen im höchsten Gebirge der Erde. Vor mir breitet sich ein Panorama aus, das mich schier aus meinen Laufschuhen haut: Mount Everest, Lhotse, Makalu und Kanchengjunga. Das Höchste, was unsere Welt zu bieten hat. Ich komme mir wie ein absoluter Winzling gegenüber diesen Bergriesen vor. Mein Atem geht gleichmäßig in der dünnen Luft auf über 3.600 Metern. Ich befinde mich in Sandakphu im indischen Teil des Himalayas im Bundesstaat Westbengalen. Dieses kleine Bergdorf ist einer der ganz wenigen Orte in der Welt, an dem man Ausblicke auf vier der fünf höchsten Berge der Erde hat. Besonders das beeindruckende Massiv des Kanchengjunga, des dritthöchsten Bergs der Erde, fasziniert mich. 8.586 Meter über dem Meeresspiegel. In Worten: Achttausendfünfhundertsechsundachtzig Meter! Ich war schon häufiger in den Alpen und am Mont Blanc unterwegs, doch was ich hier sehe, sprengt alle Grenzen. Ich bin sprachlos! Angeblich würde das Matterhorn, mit 4.478 Metern einer der höchsten Gipfel der Alpen, gut dreißig Mal in das Kanchengjunga-Massiv hineinpassen. Unvorstellbar! Seit drei Tagen laufe ich schon beim Himalaya 100 Mile Race durch das höchste Gebirge der Erde. Bei diesem Rennen gilt es, insgesamt 162 Kilometer und über 7.000 Höhenmeter in fünf Tagen zu bewältigen. Als ich vor drei Tagen, zusammen mit 42 anderen Athleten aus der ganzen Welt, losgelaufen bin, konnte ich nicht im entferntesten Sinne erahnen, was mich hier alles erwarten wird. Schon am ersten Tag geht es auf eine Höhe von fast 4.000 Metern. Da bleibt dir beim Laufen fast die Luft weg. Doch unsere Muskulatur benötigt Sauerstoff, um überhaupt arbeiten zu können. Nach dem Startschuss ist fast jeder Läufer noch locker getrabt, doch spätestens nach der vierten oder fünften Serpentine ist dann für die allermeisten nur noch Gehen möglich. Und es geht immer höher und höher. Von 2.000 Metern ausgehend, haben wir schnell eine Höhe von 2.500 Metern erreicht und nähern uns dann der 3.000-Meter-Grenze. Der Laufuntergrund zeichnet sich durch unangenehme Kopfsteinpflasterwege aus. Gift für die Fußsohlen − Konzentration für den Kopf.
Ich laufe auf Richard, einen Südafrikaner, auf, der mir schon vor dem Start des Rennens aufgefallen ist. „Was will der denn bitte bei diesem Rennen?“, fragte ich mich, als ich ihn zum ersten Mal
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