Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
wie ein Stein. Bei Kilometer 84 überholte mich ein älterer Herr, leichtfüßig wie eine Gazelle. Ich schätzte ihn auf 65 Jahre. Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich mir. Wie kann der jetzt, in seinem Alter, nach über achtzig Kilometern noch so flott laufen? Ich bekam eine Lehrstunde erster Güte. Nach sage und schreibe 17 Stunden und 51 Minuten lief ich über die Ziellinie. Die erste Zeit konnte ich diesen Erfolg überhaupt nicht genießen. Ich war einfach nur froh, dass ich diese 100 Kilometer irgendwie geschafft habe. Erst als ich wieder zu Hause ankam, vergingen nach und nach die Schmerzen und der Stolz stellte sich ein. Mit diesem Lauf habe ich meine Grenze um ein weiteres Mal verschoben. Anschließend begann ich, die Laufdistanzen sukzessive zu verlängern, bis ich im August 2007 schließlich einen weiteren großen Schritt bewältigte: den Ultra-Trail du Mont Blanc, der für mich den endgültigen Durchbruch im Ultralaufbereich bedeutete.
Insgesamt handelte es sich also um einen Prozess über fast zehn Jahre. Zehn Jahre zwischen meiner allerersten Laufeinheit und meinem ersten richtig langen Ultramarathon, der Umrundung des Mont Blanc-Massivs. Wenn Sie mich heute fragen, was denn für mich ausschlaggebend zum erfolgreichen Abschneiden am Mont Blanc war, dann antworte ich Ihnen: der erste Schritt. Vor zehn Jahren den ersten Schritt bei meiner allerersten Laufeinheit getan zu haben, bedeutete für mich den Start ins Läuferleben. Ohne diesen ersten Schritt wäre ich nicht zum regelmäßigen Laufen und schon gar nicht zum wettkampforientierten Laufen gekommen. Der Ultra-Trail Mont Blanc stellte also eine Konsequenz aus Tausenden und Abertausenden von Schritten dar, von denen der allererste der wichtigste war. Ich kann nicht heute mit dem Laufen anfangen und morgen schon 166 Kilometer nonstop um den Mont Blanc laufen. Wir können nicht heute eine Sache beginnen und morgen schon zur Spitze zählen. Gleichgültig, in welchem Lebensbereich. Das funktioniert nicht. Was wir aber tun können, ist, den ersten Schritt zu tun und dann den nächsten, den nächsten, den nächsten, den nächsten, den nächsten und so weiter, bis wir irgendwann an unserem Ziel sind.
Die Macht der Rituale
Stellen Sie sich vor: Es ist ein ungemütlicher Tag im November. Draußen hat es frische fünf Grad Celsius, dichter Nebel umgibt die mit bunten Blättern bedeckten grauen Gehwege, Regen peitscht gegen die Fensterscheibe Ihres Büros und ein stürmischer Wind pfeift. Es ist einfach ein trüber, kalter und regnerischer Herbsttag. Wie gut, dass Sie hier im beheizten und warmen Büro sitzen und von dem kalten Wetter draußen nichts mitbekommen. Sie haben sich jedoch schon wochenlang fest vorgenommen: „Heute Abend nach Feierabend gehe ich dreißig Minuten joggen.“ Diesen Vorsatz hatten Sie schon lange und heute wollen Sie endlich Taten folgen lassen. Doch Ihr Arbeitstag verläuft, wie gewohnt, stressig und Sie hetzen von einem Meeting in das nächste. Ein Telefonat jagt das andere. Zwischendurch kommt Ihnen immer wieder der Gedanke an Ihren abendlichen Vorsatz in den Sinn. Und je näher der Feierabend rückt, umso unwohler fühlen Sie sich in Ihrer Haut. „Eigentlich habe ich gar keine Lust bei diesem Wetter joggen zu gehen. Und überhaupt: Nach solch einem anstrengenden Arbeitstag habe ich es mir verdient, einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher zu verbringen“, denken Sie sich. „Auf der anderen Seite würde mir ein wenig Bewegung an der frischen Luft ja auch ganz gut tun.“ Es ist bereits 18:30 Uhr und stockdunkel, als Sie schließlich nach Hause kommen. Sie legen Ihre Sachen ab und lassen sich erst einmal auf Ihre bequeme Couch fallen. „Was für ein Tag“, sagen Sie sich. Ihr Kopf fängt langsam wieder an zu arbeiten: „Soll ich oder soll ich nicht? Wenn ich jetzt rausgehe und laufe, dann würde ich mir und meinem Körper wirklich etwas Gutes tun“, sagt die eine Stimme in Ihrem Kopf. „Da draußen ist es ja so ungemütlich, trüb und kalt. Hier in der warmen, komfortablen Wohnung ist es doch viel angenehmer.“ Die andere Stimme in Ihnen meint dagegen: „Denk an deine Figur. Joggen macht dich schlank. Los geht’s!“ Doch die zweite Stimme antwortet prompt: „Geh doch lieber mit deinem Kumpel Walter ein Bier trinken. Das ist doch viel gemütlicher.“ Nach einigem Hin und Her kommen Sie schließlich zu der Entscheidung: „Heute genehmige ich mir noch einmal eine Ausnahme und lasse das Joggen sein. Nur noch
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