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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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war, ging ich in einen Buchladen, ich konnte noch nicht wieder zurück in die Wohnung, ich brauchte Zeit zum Nachdenken, hinten im Laden sah ich einen Mann, der mich stark an Simon Goldberg erinnerte, er stand ebenfalls in der Kinderbuchabteilung, je länger ich ihn betrachtete, desto weniger glaubte ich, dass er es wirklich war, desto mehr wünschte ich mir, dass er es war, hatte man ihn nicht in den Tod geschickt, sondern in ein Arbeitslager gesteckt? Meine Hände zitterten so sehr in den Hosentaschen, dass das Kleingeld klimperte, ich wollte nicht zu aufdringlich hinschauen, ich wollte meine Arme nicht ausstrecken, war es möglich, erkannte er mich, er hatte geschrieben: »Ich hoffe sehr, dass sich unsere Wege, wie lang und verschlungen sie auch sein mögen, irgendwann wieder kreuzen.« Fünfzig Jahre danach trug er immer noch die Brille mit den dicken Gläsern, ein weißeres Hemd hatte ich noch nie gesehen, es fiel ihm offensichtlich schwer, die Bücher aus der Hand zu legen, ich ging zu ihm. »Ich spreche nicht«, schrieb ich, »tut mir Leid.« Er umarmte mich, er drückte mich an sich, ich spürte sein Herz an meinem Herzen, sie versuchten, im Gleichtakt zu schlagen, er wandte sich wortlos ab und floh vor mir, aus dem Laden, auf die Straße, ich glaube fast, dass er es nicht gewesen ist, ich will ein unendlich langes Buch und den Rest der Zeit … Am nächsten Tag ging Oskar mit dem alten Mann zum Empire State Building, ich wartete unten auf der Straße. Ich schaute immer wieder hoch und versuchte, sie zu sehen, ich bekam einen steifen Nacken, blickte er auf mich herunter, ahnten wir etwas voneinander? Nach einer Stunde glitten die Fahrstuhltüren auf, und der alte Mann betrat die Lobby, hatte er Oskar dort oben zurückgelassen, so hoch oben, so allein, wer würde auf ihn aufpassen? Ich hasste den alten Mann. Ich begann, etwas in mein Buch zu schreiben, er kam auf mich zu und packte mich beim Kragen. »Jetzt hören Sie mal gut zu«, sagte er, »ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich habe gemerkt, dass Sie uns verfolgen, und das gefällt mir nicht. Überhaupt nicht. Ich sage Ihnen jetzt zum ersten und zum letzten Mal: Lassen Sie sich nicht mehr blicken.« Da mein Buch auf den Fußboden gefallen war, konnte ich nichts erwidern. »Wenn ich Sie je wieder in der Nähe dieses Jungen sehe …« Ich zeigte auf den Fußboden, er ließ meinen Kragen los, ich hob das Buch auf und schrieb: »Ich bin Oskars Großvater. Ich spreche nicht. Tut mir Leid.« »Sein Großvater?« Ich blätterte zurück und zeigte auf das, was ich eben geschrieben hatte, »Wo ist er?« »Oskar hat keinen Großvater.« Ich zeigte auf die Seite. »Er kommt die Treppe runter.« Ich erklärte alles so schnell und ausführlich wie möglich, meine Handschrift war kaum noch zu lesen, er sagte: »Oskar würde mich nicht belügen.« Ich schrieb: »Er hat nicht gelogen. Er weiß nichts davon.« Der alte Mann zog eine Halskette unter seinem Hemd hervor und betrachtete sie, der Anhänger war ein Kompass, er sagte: »Oskar ist mein Freund. Ich muss ihm alles erzählen.« »Er ist mein Enkel. Bitte erzählen Sie ihm nichts.« »Eigentlich müssten Sie ihn begleiten.« »Habe ich doch.« »Und was ist mit seiner Mutter?« »Was soll mit seiner Mutter sein?« Wir hörten Oskar singen, gleich würde er um die Ecke kommen, seine Stimme wurde lauter, der alte Mann sagte: »Er ist ein prima Junge«, und ging davon. Ich kehrte sofort nach Hause zurück, die Wohnung war leer. Ich dachte daran, meine Sachen zu packen, ich dachte daran, aus dem Fenster zu springen, ich setzte mich aufs Bett und dachte nach, ich dachte über dich nach. Was hast du am liebsten gegessen, was war dein Lieblingssong, mit welchem Mädchen hast du dich zum ersten Mal geküsst und wo und wie, bald ist das Buch voll, ich will ein unendlich dickes Buch mit weißen Seiten, und ich will es für immer, ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrich, es war egal, ich hatte keinen Grund mehr, mit meinem Leben Schritt zu halten. Jemand klingelte an der Tür, ich stand nicht auf, mir war egal, wer es war, ich wollte allein sein, auf der anderen Seite des Fensters. Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und ich hörte seine Stimme, sie gab meinem Leben einen Sinn: »Oma?« Er war in der Wohnung, wir waren allein, Großvater und Enkel. Ich hörte, wie er von Zimmer zu Zimmer ging, Sachen zur Hand nahm, Schubladen und Schranktüren öffnete und schloss, was suchte er bloß, warum war er ständig auf der

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