Extrem laut und unglaublich nah
Tüte, steckte die Tüte wieder in die eine Kiste und diese in die andere und versteckte alles un ter einem Haufen Zeug in meiner Kleiderkammer.
Ich starrte eine Ewigkeit die Sterne an, die an meiner Zim merdecke klebten.
Ich erfand etwas.
Ich verpasste mir einen blauen Fleck.
Ich erfand etwas.
Ich stieg aus dem Bett, ging zum Fenster und nahm das Walkie-Talkie. »Oma? Oma, hörst du mich? Oma? Oma?« »Oskar?« »Mir geht es gut. Over.«
»Es ist spät. Was ist denn los? Over.« »Habe ich dich geweckt? Over.« »Nein. Over.« »Was hast du gerade gemacht? Over.« »Ich habe mich mit dem Mieter unterhalten. Over.« »Ist er noch wach? Over.« Mom hatte zwar gesagt, ich solle keine Fragen nach dem Mieter stellen, aber manchmal konnte ich einfach nicht anders. »Ja«, sagte Oma, »aber er ist gerade gegangen. Er muss noch ein paar Besorgungen machen. Over.« »Um zwölf nach vier? Over.«
Der Mieter lebte seit Dads Tod bei Oma, und obwohl ich sie fast jeden Tag in ihrer Wohnung besuchte, war ich ihm noch nie begegnet. Er war ständig unterwegs, um etwas zu besorgen, oder er machte ein Nickerchen, oder er stand unter der Dusche, obwohl ich nie Wasser laufen hörte. Mom sagte zu mir: »Als Oma fühlt man sich irgendwann bestimmt ziemlich einsam, meinst du nicht?« Ich erwiderte: »Vermutlich fühlt sich jeder irgendwann ziemlich einsam.« »Aber sie hat keine Mom und auch keine Freunde wie Daniel und Jake und schon gar keinen Buckminster.« »Stimmt.« »Vielleicht braucht sie einfach einen imaginären Freund.« »Aber ich bin doch wirklich«, sagte ich. »Ja, und sie verbringt sehr gern Zeit mit dir. Aber du gehst zur Schule und triffst dich mit Freunden und probst für Hamlet und hast all deine Hobbys …« »Bitte nenn sie nicht Hobbys.« »Ich will ja auch nur sagen, dass du nicht die ganze Zeit bei ihr sein kannst. Und außerdem wäre es ja gut mög lich, dass sie einen gleichaltrigen Freund braucht.« »Woher weißt du, wie alt ihr imaginärer Freund ist?« »Das kann ich natürlich nicht wissen.«
Sie sagte: »Ist doch nicht schlimm, wenn man einen Freund braucht.« »Meinst du jetzt Ron?« »Nein, ich meine Oma.« »Außer, dass du eigentlich Ron meinst.« »Nein, Oskar, ich meine ihn nicht. Und ich mag es nicht, wenn du in diesem Ton mit mir sprichst.« »In welchem Ton denn?« »Du hast wie der diesen vorwurfsvollen Ton gehabt.« »Ich weiß doch über haupt nicht, was vorwurfsvoll ist. Wie kann ich da so einen Ton haben?« »Du wolltest nur, dass ich mich schlecht füh le, weil ich einen Freund brauche.« »Nein, wollte ich nicht.« Sie legte sich die Hand mit dem Ring aufs Haar und sagte: »Weißt du, Oskar, ich habe wirklich Oma gemeint, aber natür lich stimmt es, dass auch ich Freunde brauche. Was ist falsch daran?« Ich zuckte mit den Schultern. »Glaubst du nicht, dass Dad mir Freunde gegönnt hätte?« »Ich habe nicht so einen Ton gehabt.«
Oma wohnt im Haus gegenüber. Wir sind im fünften Stock, und sie ist im dritten, aber der Unterschied ist nicht be sonders groß. Manchmal hängt sie Nachrichten für mich ins Fenster, die ich mit meinem Fernglas lesen kann, und einmal haben Dad und ich einen ganzen Nachmittag an einem Pa pierflieger gebastelt, den wir von unserer Wohnung in ihre werfen wollten. Stan stand unten auf der Straße und sammelte die Fehlwürfe ein. Ich kann mich noch an eine Nachricht er innern, die sie nach Dads Tod schrieb: »Verlass mich nicht.«
Oma steckte den Kopf aus dem Fenster und legte ihren Mund so unglaublich dicht ans Walkie-Talkie, dass ihre Stimme ganz verzerrt klang. »Alles in Ordnung? Over.« »Oma? Over.« »Ja? Over.« »Warum sind Streichhölzer so kurz? Over.« »Wie meinst du das? Over.« »Naja, sie brennen so schnell ab. Am Ende muss man sich immer beeilen, und manchmal verbrennt man sich sogar die Finger. Over.« »Ich bin natürlich nicht die Klügste«, meinte sie und machte sich damit wie immer klein, bevor sie ihre Meinung sagte, »aber ich glaube, dass Streichhölzer so kurz sind, damit sie in die Hosentasche passen. Over.« »Ja«, sagte ich. Ich hatte das Kinn auf die Hand und meinen Ellbogen auf die Fensterbank gestützt. »Das glaube ich auch. Aber wie wäre es, wenn Hosentaschen viel größer wären? Over.« »Tja, das weiß ich auch nicht so genau, aber wenn Hosentaschen sehr viel tiefer wären, wäre es natürlich mühsam, ganz unten dranzukommen. Over.« »Stimmt«, sagte ich, und weil die eine Hand müde wurde, nahm ich das
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