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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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morgens auf der Straße ihrem Vater begegnet sein musste. »Welche Dinge?« Hatte ihm der starke Arm gehört, der mich im Vorbeigehen gestreift hatte? »Alles. Die ganze Welt.« Hatte er mich erkannt oder hatten mich mein Hut und mein gesenkter Kopf getarnt? »Seit wann?« Vielleicht war er auch mit gesenktem Kopf gegangen. »Seit dem Anfang aller Dinge.« Je mehr ich versuchte, sie aus meinen Gedanken zu verbannen, desto mehr dachte ich an sie, desto schwerer fiel es mir, mich zu erklären, ich ging wieder zu ihr, ich lief die Strecke zwischen unseren Stadtvierteln mit gesenktem Kopf, sie war wieder nicht da, am liebsten hätte ich nach ihr gerufen, wollte aber nicht, dass sie meine Stimme hörte, all mein Verlangen hatte seinen Ursprung in dem einen, kurzen Gespräch, die halbe Stunde, die wir miteinander verbracht hatten, barg Stoff für hundert Millionen Diskussionen und wahnwitzige Geständnisse und tiefstes Schweigen. Ich hatte so viele Fragen an sie: »Liegst du gern mit dem Bauch auf dem Eis und suchst nach Dingen, die darin eingeschlossen sind?« »Magst du Theater?« »Hörst du gern etwas, bevor du es siehst?« Am nächsten Tag ging ich wieder hin, der Weg war anstrengend, mit jedem Schritt wuchs meine Überzeugung, dass sie schlecht von mir dachte oder, noch schlimmer, überhaupt nicht an mich dachte, ich lief mit gesenktem Kopf, den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, wenn man sein Gesicht vor der Welt verbirgt, kann man die Welt nicht mehr sehen, und aus diesem Grund geschah es – mitten in meiner Jugend, mitten in Europa, zwischen unseren Stadtteilen, kurz bevor alles verloren ging –, dass ich mit etwas zusammenstieß und hinfiel. Es dauerte ein bisschen, bis ich wieder zur Besinnung kam, zuerst glaubte ich, ich wäre gegen

einen Baum gerannt, aber dann wurde der Baum zu einem Menschen, der ebenfalls am Boden lag und dabei war, wieder zur Besinnung zu kommen, und dann sah ich, dass sie es war, und sie sah, dass ich es war, »Hallo«, sagte ich und klopfte mir den Staub ab, »Hallo«, sagte sie. »Komischer Zufall.« »Ja.« Wie sollte ich erklären? »Wohin willst du?«, fragte ich. »Ich gehe einfach nur spazieren«, sagte sie, »und du?« »Ich gehe auch ein fach nur spazieren.« Wir halfen uns gegenseitig auf die Beine, sie zupfte mir Blätter aus dem Haar, ich hätte gern ihr Haar berührt, »Nein, stimmt nicht«, fügte ich hinzu, ohne zu wis sen, was ich als Nächstes sagen sollte, ich wollte nur, dass mei ne nächsten Worte wahrhaftig waren, ich wollte mein Inners tes zum Ausdruck bringen und verstanden werden, noch nie hatte ich etwas so sehr gewollt. »Ich wollte zu dir.« Ich erzähl te ihr: »An den letzten sechs Tagen bin ich immer zu dir ge gangen. Aus irgendeinem Grund muss ich dich unbedingt wiedersehen.« Sie schwieg, ich hatte mich lächerlich gemacht, es macht nichts, wenn man sich nicht durchschaut, und dann begann sie zu lachen, ich hatte noch nie erlebt, dass jemand so sehr lachte, sie lachte Tränen, die Tränen ließen noch mehr Tränen fließen, und weil ich mich so unglaublich schämte, be gann ich ebenfalls zu lachen, »Ich wollte zu dir«, sagte ich wie der, als wollte ich die Sache noch schlimmer für mich machen, »weil ich dich wiedersehen wollte«, sie lachte und lachte, »Das ist also die Erklärung«, sagte sie, als sie wieder sprechen konn te. »Wofür?« »Dafür, dass du an den letzten sechs Tagen nie zu Hause warst.« Wir hörten auf zu lachen, ich nahm die Welt in mich auf, ordnete sie neu und sandte sie als Frage wieder aus: »Magst du mich?«

Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist ?

Er antwortete: Acht nach halb zehn, er sah mir unglaublich ähnlich, ich merkte, dass es ihm ebenfalls auffiel, zum Zeichen, dass wir uns ineinander wiedererkannten, tauschten wir ein Lächeln, wie viele Menschen nehmen meine Identität an? Begehen wir alle dieselben Fehler, oder gibt es auch jemanden, der alles richtig oder wenigstens fast richtig macht, habe ich etwa die Identität eines anderen angenommen? Ich sagte mir selbst die Uhrzeit, und ich denke an deine Mutter, wie jung und alt sie ist, wie sie ihr Geld in einem Umschlag mit sich herumträgt, wie sie dafür sorgt, dass ich mich bei jedem Wetter mit Sonnenmilch eincreme, wie sie »Gesundheit« sagt, wenn sie geniest hat, ich wünsche ihr Gesundheit. Jetzt ist sie zu Hause und schreibt ihre Lebensgeschichte, wenn ich gehe, tippt sie, sie weiß nicht, welche Kapitel als Nächstes kommen. Das war meine

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