Extrem laut und unglaublich nah
versuchten, uns das Leben ein facher zu machen, wir versuchten, das Leben mit unseren Regeln so zu gestalten, dass es möglichst einfach war. Aber dann kam es zum Konflikt zwischen Etwas und Nichts, morgens warf die Nichts-Vase einen Etwas-Schatten, er glich der Erinnerung an einen Menschen, den man verloren hatte, was bleibt da zu sagen, nachts schien das Nichts-Licht aus dem Gästezimmer unter der Nichts-Tür durch und befleckte den Etwas-Flur, was soll man dazu sagen. Es wurde schwierig, sich von Etwas zu Etwas zu bewegen, ohne aus Versehen durch ein Nichts zu laufen, und wenn ein Etwas–ein Schlüssel, ein Stift, eine Taschenuhr – aus Versehen an einem Nicht-Ort liegen blieb, war dieses Etwas für immer verloren, das war eine unausgesprochene Regel, wie fast alle unsere Regeln. Vor einem Jahr oder zwei Jahren erreichten wir den Punkt, an dem unsere Wohnung mehr Nichts als Etwas war, an sich hätte das nicht unbedingt ein Problem sein müssen, es hätte sogar von Vorteil sein können, es hätte uns retten können. Aber alles wurde noch schlimmer. Eines Nachmittags saß ich im zweiten Schlafzimmer auf dem Sofa und überlegte und überlegte und überlegte, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich mich auf einer Etwas-Insel befand. »Wie bin ich hierher gekommen?«, fragte ich mich, denn ich saß mitten im Nichts, »und wie komme ich wieder zurück?« Je länger deine Mutter und ich zusammenwohnten, desto öfter nahmen wir die Mutmaßungen des anderen als gegeben hin, je weniger offen ausgesprochen wurde, desto mehr wurde missverstanden, oft glaubte ich, dass wir eine bestimmte Stelle als Nichts gekennzeichnet hatten, während sie der festen Überzeugung war, wir seien übereingekommen, dass sie Etwas sei, unsere unausgesprochenen Vereinbarungen waren plötzlich Unvereinbarkeiten, sie führten zu Streit und Leiden, ich wollte mich vor ihren Augen ausziehen, das ist erst ein paar Monate her, und sie sagte: »Thomas! Was tust du da?«, und ich teilte ihr durch eine Geste mit: »Ich dachte, hier wäre Nichts«, und bedeckte meine Blöße mit einem meiner Tage bücher, und sie sagte: »Da ist Etwas!« Wir holten den Grund riss unserer Wohnung aus dem Schrank im Flur und klebten ihn innen an die Eingangstür, wir schieden Nichts und Etwas mit einem orangen und einem grünen Textmarker voneinan der. »Das ist Etwas«, beschlossen wir. »Das ist Nichts.« »Etwas.« »Etwas.« »Nichts.« »Etwas.« »Nichts.« »Nichts.« »Nichts.« Wir legten alles endgültig fest, damit Glück und Friede ewig wäh ren konnten, und erst am letzten Abend, unserem letzten ge meinsamen Abend, kam die unvermeidliche Frage auf, ich sag te zu ihr: »Etwas«, indem ich ihr die Hände aufs Gesicht legte und wie einen Brautschleier wieder hob. »Wir sind Etwas, oder?« Doch im Innersten meines Herzens wusste ich die Wahrheit.
Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie spät es ist ?
Das hübsche Mädchen wusste nicht, wie spät es war, sie sei in Eile, sagte sie, »Viel Glück«, ich lächelte, sie eilte davon, beim Laufen wehte ihr Rock, manchmal merke ich, wie meine Knochen unter der Last all meiner ungelebten Leben ächzen. In diesem Leben sitze ich in einem Flughafen und versuche, mich meinem ungeborenen Sohn zu erklären, ich fülle die Seiten dieses Tagebuchs, meines letzten, ich muss an einen Laib Schwarzbrot denken, den ich eines Nachts draußen lie gen ließ, am nächsten Morgen konnte ich den Umriss der Maus erkennen, die sich mitten hindurchgefressen hatte, ich schnitt den Laib in Scheiben, und bei jedem Schnitt sah ich die Maus, ich muss an Anna denken, ich würde alles geben, um nie wieder an sie denken zu müssen, festhalten kann ich nur an dem, was ich verlieren will, ich muss an den Tag den ken, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, sie war mit ihrem Vater gekommen, der meinen Vater besuchen wollte, sie waren Freunde, vor dem Krieg hatten sie über Kunst und Li teratur gesprochen, aber als der Krieg ausbrach, sprachen sie nur noch über den Krieg, ich sah sie schon von weitem, ich war fünfzehn, sie war siebzehn, während sich unsere Väter drinnen unterhielten, setzten wir uns draußen ins Gras, wir waren ja noch so jung. Wir sprachen über nichts Besonderes, trotzdem war es, als sprächen wir über die ersten und letzten Dinge, wir rupften Hände voll Gras aus, und ich fragte sie, ob sie gern lese, sie sagte: »Nein, aber es gibt Bücher, die ich liebe, liebe, liebe«, sie sagte es genau so, dreimal, »Tanzt du
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