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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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gern?«, fragte sie, »Schwimmst du gern?«, fragte ich, wir sahen uns an, bis wir das Gefühl hatten, dass im nächsten Moment alles um uns herum in Flammen aufgehen würde, »Magst du Tiere?«, »Magst du schlechtes Wetter?«, »Magst du deine Freunde?« Ich erzählte ihr von meiner Skulptur, sie sagte: »Du wirst be stimmt ein großer Künstler.« »Woher willst du das wissen?«
    »Ich weiß es einfach.« Ich sagte, dass ich schon längst ein großer Künstler sei, so unsicher war ich damals, sie sagte: »Ich meine berühmt«, ich sagte, das sei unwichtig, sie fragte mich, was mir wichtig sei, ich sagte, dass es mir nur um die Kunst an sich gehe, sie lachte und sagte: »Du durchschaust dich nicht«, ich sagte: »Natürlich durchschaue ich mich«, sie sagte: »Na klar«, ich sagte: »Doch!« Sie sagte: »Macht doch nichts, wenn man sich nicht durchschaut«, sie sah mein Innerstes, »Magst du Musik?« Unsere Väter kamen aus dem Haus und blieben vor der Tür stehen, einer von ihnen fragte: »Und was machen wir jetzt?« Ich wusste, dass sie gleich weg musste, ich fragte sie, ob sie gern Sport mache, sie fragte mich, ob ich gern Schach spiele, ich fragte sie, ob sie umgestürzte Bäume möge, sie kehrte mit ihrem Vater nach Hause zurück, mein Innerstes folgte ihr, mir blieb nur die Hülle, ich musste sie wiedersehen, ich wusste nicht, warum ich dieses Bedürfnis hatte, und genau deshalb war es ein so schönes Bedürfnis, es macht nichts, wenn man sich nicht durchschaut. Am nächsten Tag ging ich zu ihr, der Weg zum Stadtteil, in dem sie wohnte, dauerte eine Stunde, ich hatte Angst, unterwegs erkannt zu werden, zu viel zu erklären, was ich nicht hätte erklären können, ich setzte mir einen breitkrempigen Hut auf und hielt den Kopf gesenkt, ich hörte die Schritte anderer Passanten, wusste aber nicht, ob es Mann, Frau oder Kind war, ich hatte das Gefühl, über eine flach gelegte Leiter zu laufen, ich war zu schamhaft oder zu schüchtern, um mich bei ihr zu melden, lief ich die Leiter hinauf oder hinunter? Ich versteckte mich hinter einem Erdhaufen, der beim Ausheben eines Grabes entstanden war, eines Grabes für alte Bücher, die Literatur war die einzige Religion ihres Vaters, wenn ein Buch auf den Fußboden fiel, küsste er es, wenn er ein Buch durchgelesen hatte, schenkte er es meist jemandem, der ebenfalls in Bücher vernarrt war, wenn er kei nen würdigen Empfänger fand, begrub er es, ich hielt den ganzen Tag Ausschau nach ihr, sah sie aber nicht, nicht auf dem Hof, nicht in einem Fenster, ich schwor mir zu bleiben, bis ich sie sah, aber bei Einbruch der Nacht wusste ich, dass ich nach Hause musste, ich hasste mich dafür zu gehen, warum war ich kein Mensch, der blieb? Ich ging mit gesenktem Kopf, ich musste die ganze Zeit an sie denken, obwohl ich sie kaum kannte, ich wusste nicht, welchen Gewinn ich von einem Wiedersehen hätte, aber ich wusste, dass ich bei ihr sein wollte, als ich am nächsten Tag wieder mit gesenktem Kopf zu ihr ging, kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht überhaupt nicht an mich dachte. Die Bücher waren begraben worden, deshalb versteckte ich mich diesmal hinter ein paar Bäumen, ich stellte mir vor, wie sich ihre Wurzeln um die Bücher schlossen und Nährstoffe aus den Seiten sogen, ich stellte mir die Buchstabenringe im Holz der Stämme vor, ich wartete stundenlang, in einem der Fenster im zweiten Stock sah ich deine Mutter, sie war noch ein Mädchen, sie erwiderte meinen Blick, aber Anna sah ich nicht. Ein Blatt fiel, gelb wie Papier, ich musste nach Hause, und dann, am nächsten Tag, musste ich wieder zu ihr. Ich schwänzte die Schule, der Weg kam mir kurz vor, mein Nacken tat mir weh, weil ich die ganze Zeit den Kopf gesenkt hielt, ich streifte den Arm eines anderen Passanten – einen starken, breiten Arm –, und ich versuchte mir vorzustellen, wem er gehörte, einem Bauern, einem Steinmetz, einem Maurer, einem Zimmermann. Als ich ihr Haus erreichte, versteckte ich mich unter einem der Fenster an der Rückseite, in der Ferne ratterte ein Zug vorbei, Menschen kamen, Menschen gingen, Soldaten, Kinder, die Fensterscheibe vibrierte wie ein Trommelfell, ich wartete den ganzen Tag, war sie auf einem Ausflug, hatte sie etwas zu erledigen, versteckte sie sich vor mir? Als ich nach Hause kam, erzählte mir mein Vater, dass er noch einmal Besuch von ihrem Vater bekommen habe, ich fragte ihn, warum er so keuche, er sagte: »Die Dinge werden immer schlimmer«, mir wurde bewusst, dass ich

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