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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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gewesen, jetzt komme ich jeden Morgen, bevor wir den Laden öffnen, und jeden Abend nach dem Essen, warum nur, hoffe ich im Stillen, dass irgendwann einmal jemand aus dem Flugzeug steigt, den ich kenne, warte ich auf einen Verwandten, der nie kommt, erwarte ich Anna? Nein, darum geht es nicht, es geht nicht um Freude oder die Erlösung von meiner Last. Ich schaue gern Menschen zu, die wieder vereint sind, vielleicht ist das Unsinn, aber so ist es nun einmal, ich schaue gern Menschen zu, die aufeinander zulaufen, mir gefallen die Küsse und Tränen, mir gefällt die Ungeduld, mir gefallen die Geschichten, die der Mund nicht schnell genug erzäh len kann, die Ohren, die nicht groß genug sind, um alles auf einmal hören zu können, die Augen, die von den vielen Veränderungen überfordert sind, ich mag die Umarmungen, das Zusammentreffen von Menschen, die endlich gestillte Sehnsucht, ich sitze mit einem Kaffee am Rand und schreibe in mein Tagebuch, ich schaue mir die Abflugzeiten an, die ich längst auswendig kenne, ich beobachte, ich schreibe, ich versuche, nicht an das Leben zu denken, das ich nicht verlieren wollte, aber trotzdem verloren habe und das erinnert werden muss, hier zu sein erfüllt mich mit tiefer Freude, auch wenn es im Grunde nicht meine Freude ist, und am Ende des Tages stopfe ich den Koffer mit längst überholten Neuigkeiten voll. Vielleicht war das die Geschichte, die ich mir erzählt habe, als ich deiner Mutter begegnet bin, ich habe geglaubt, wir könnten aufeinander zulaufen, ich habe geglaubt, wir könnten ein wunderbares Wiedersehen feiern, obwohl wir uns in Dresden kaum gekannt hatten. Aber so war es nicht. Wir traten mit ausgestreckten Armen auf der Stelle, aber wir streckten sie nicht nach einander aus, sondern hielten einander damit auf Abstand, alles zwischen uns war zu Regeln erstarrt, die unser gemeinsames Leben lenkten, alles war genau bemessen, eine Ehe der Millimeter, der Regeln, wenn sie aufsteht, um duschen zu gehen, füttere ich die Tiere – so lautet die Regel –, damit sie sich nicht geniert, sie beschäftigt sich irgendwie, wenn ich mich abends ausziehe – Regel –, sie geht zur Tür, um nachzuschauen, ob zugesperrt ist, sie sieht zur Vorsicht zweimal nach dem Ofen, sie geht zum Geschirrschrank, in dem ihre Porzellansammlungen stehen, sie schaut wieder einmal nach den Lockenwicklern, die sie seit unserer ersten Begegnung nicht mehr benutzt hat, und wenn sie sich auszieht, habe ich so viel zu tun wie noch nie in meinem Leben. Wir waren erst ein paar Monate verheiratet, da sperrten wir schon bestimmte Be reiche unserer Wohnung als »Nicht-Orte« ab, an denen man seine absolute Privatsphäre hatte, wir kamen überein, die abgesperrten Bereiche nicht anzuschauen, dass es sich dabei um Teile unserer Wohnung handelte, die gar nicht existierten und in denen man selbst vorübergehend aufhören konnte zu existieren, der erste war im Schlafzimmer, am Fußende des Bettes, wir markierten ihn mit rotem Klebeband auf dem Teppich, er war gerade groß genug, um darin stehen zu können, er war ein guter Ort, um sich aufzulösen, wir wussten, dass er da war, aber wir schauten nie hin, es klappte so gut, dass wir beschlossen, im Wohnzimmer ebenfalls einen Nicht-Ort einzurichten, das hielten wir für notwendig, denn hin und wieder möchte man sich auch im Wohnzimmer auflösen, und hin und wieder möchte man sich einfach so auflösen, diesen Bereich machten wir etwas größer, sodass sich einer von uns dort hinlegen konnte, die Regel lautete, dass wir diesen rechteckigen Bereich nie anschauten, er existierte nicht, und wenn man sich darin aufhielt, hörte man selbst auf zu existieren, das reichte für eine Weile, aber nur für eine Weile, wir brauchten noch mehr Regeln, an unserem zweiten Hochzeitstag bestimmten wir das ganze Gästezimmer zum Nicht-Ort, damals hielten wir das für eine gute Idee, manchmal bietet ein kleiner Fleck am Fußende des Bettes oder ein Rechteck im Wohnzimmer nicht genug Privatsphäre, die Innenseite der Gästezimmertür war Nichts, die Außenseite zum Flur war Etwas, der Knauf, der beide Seiten miteinander verband, war entweder Nichts oder Etwas. Die Wände des Flurs waren Nichts, selbst Bilder müssen sich manchmal auflösen, ganz besonders Bilder, aber der eigentliche Flur war Etwas, die Badewanne war Nichts, das Badewasser war Etwas, unsere Körperbehaarung war natürlich Nichts, aber wenn wir die Haare aus dem Sieb im Abfluss sammelten, waren sie Etwas, wir

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