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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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hatte es der Länge nach herausgezogen und dabei das Negativ alles Getippten enthüllt – das zukünftige Zuhause, das ich immer wieder für Anna entworfen hatte, all meine unbeantwortet ge bliebenen Briefe –, als könnte mich das vor meinem wahren Leben schützen. Noch schlimmer war die Erkenntnis – sie ist unaussprechlich, aber ich muss sie aufschreiben! –, dass deine Mutter die Leere nicht sehen konnte, sie konnte gar nichts se hen. Ich wusste, dass sie Probleme mit den Augen hatte, beim Gehen hielt sie sich an meinem Arm fest, sie hatte gesagt: »Meine Augen sind schlecht«, aber ich hatte immer geglaubt, dass sie nur einen Grund suchte, um mich berühren zu kön nen, dass es nur eine Floskel war, warum bat sie nicht um Hil fe, warum wollte sie stattdessen diese Zeitschriften und Zei tungen, obwohl sie sie überhaupt nicht lesen konnte, war das ihre Art, um Hilfe zu bitten? Klammerte sie sich deshalb so an Geländern fest, wollte sie deshalb nicht, dass ich ihr beim Ko chen zuschaute oder beim Umziehen oder beim Öffnen von Türen? Hatte sie immer etwas zum Lesen vor der Nase, damit sie nichts anderes anzuschauen brauchte? Hatte ich ihr mit all den Worten, die ich im Laufe der Jahre für sie notiert hatte, nie wirklich etwas gesagt? »Wunderbar«, sagte ich, indem ich ihre Schulter auf die vertraute Art streichelte, »ganz wunderbar.«
    »Lies weiter«, sagte sie, »ich möchte wissen, wie du es fin dest.« Ich legte mir ihre Hand auf die Wange, ich neigte den Kopf zur Seite, für sie bedeutete diese Geste im Zusammenhang unseres Gesprächs: »Hier kann ich das nicht lesen. Ich nehme es mit ins Schlafzimmer, ich möchte deine Lebensgeschichte gründlich und in aller Ruhe lesen, das hat sie verdient.« Für mich bedeutete diese Geste im Zusammenhang unseres Gesprächs jedoch: »Ich habe vor dir versagt.«

Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist ?

Anna und ich schliefen zum ersten Mal hinter der Laube ihres Vaters miteinander, der frühere Besitzer war ein Bauer gewesen, aber Dresden wuchs und schluckte die umliegenden Dörfer, und das Hofgrundstück wurde in neun Parzellen aufgeteilt, Annas Familie gehörte die größte. An einem Nachmittag im Herbst brach die alte Laube zusammen – »Ein Blatt zu viel«, scherzte Annas Vater –, und tags darauf errichtete er neue Wände, sie bestanden aus Bücherregalen, sodass Innen und Außen von Büchern getrennt wurden. (Das neue, überhängende Dach schützte die Bücher vor Regen, aber im Winter froren die Seiten zusammen, wenn der Frühling begann, lösten sie sich mit einem Seufzer voneinander.) Den Innenraum verwandelte er in eine kleine Stube, es gab zwei Sofas, abends begab er sich gern mit einem Glas Whisky und seiner Pfeife dorthin, er zog Bücher aus den Regalen und schaute durch die Lücken zur Innenstadt. Er war ein Intellektueller, wenn auch keiner von Bedeutung, vielleicht wäre er bedeutend geworden, wenn er länger gelebt hätte, vielleicht warteten große Bücher wie zusammengedrückte Sprungfedern in ihm, Bücher, die das Innen vom Außen geschieden hätten. Am Tag, als Anna und ich zum ersten Mal miteinander schliefen, begegnete ich ihm auf dem Hof, er stand dort mit einem etwas verlotterten Mann, dessen lockiges Haar in alle Richtungen abstand, dessen Brille verbogen und dessen weißes Hemd schwarz von der Druckerschwärze an seinen Händen war, »Thomas, ich möchte dir meinen Freund Simon Goldberg vorstellen.« Ich sagte guten Tag, ich wusste nicht, wer dieser Mann war und warum ich ihm vorgestellt wurde, ich wollte zu Anna, Herr Goldberg wollte wissen, was ich machte, seine Stimme war so schön und huckelig wie Kopfsteinpflaster, ich antwortete: »Ich mache gar nichts«, Annas Vater lachte, »Sei nicht so bescheiden«, sagte er. »Ich will Bildhauer werden.« Herr Goldberg nahm die Brille ab, zog sein Hemd aus der Hose und putzte die Gläser mit einem Zipfel. »Du willst Bildhauer werden?« Ich sagte: »Ich versuche jedenfalls, Bildhauer zu werden.« Er setzte die Brille wieder auf, er klemmte sich die Drahtbügel hinter die Ohren und sagte: »In deinem Fall ist versuchen gleich sein.« »Und was machen Sie?«, fragte ich und klang dabei etwas herausfordernder als beabsichtigt. Er sagte: »Ich mache überhaupt nichts mehr.« Annas Vater sagte zu ihm: »Sei nicht so bescheiden«, aber diesmal lachte er nicht, und zu mir sagte er: »Simon ist einer der großen Denker unserer Zeit.« »Ich versuche es jedenfalls«, sagte Herr Goldberg zu

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