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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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mir, als gäbe es nur uns zwei. »Was versuchen Sie?«, fragte ich und klang dabei etwas ratloser als beabsichtigt, er setzte die Brille wieder ab, »Ich versuche zu sein.« Während sich Herr Goldberg und Annas Vater in der Laube unterhielten, deren Bücher Innen und Außen trennten, unternahmen Anna und ich einen Spaziergang zum Ried, das hinter der grau-grünen Tonerde und neben dem alten Pferdestall lag, und wenn man wusste, wohin man schauen musste, konnte man von dort das Wasser sehen, wir versanken bis zu den Knöcheln im Schlamm und im Saft des Fallobstes, das wir aus dem Weg traten, vom oberen Rand des Grundstücks sahen wir den Bahnhof, dort herrschte große Hektik, der Krieg kam uns immer näher, Soldaten fuhren durch unsere Stadt nach Osten, und Flüchtlinge fuhren nach Westen oder blieben da, Züge kamen an und fuhren ab, zu Hunderten, am Ende waren wir wieder am Ausgangspunkt, draußen vor der Laube, die jetzt eine Stube war. »Komm, wir setzen uns«, flüsterte Anna, wir ließen uns auf der Erde nieder und lehnten uns an die Regale, wir hörten sie drinnen reden, der Pfeifenrauch, der zwischen den Büchern nach draußen drang, stieg uns in die Nase, Anna begann mich zu küssen, »Und wenn sie rauskommen?«, flüsterte ich, sie legte die Hände auf meine Ohren, was heißen sollte, dass sie zu laut redeten, um uns hören zu können. Sie berührte mich überall, was tat sie da, ich berührte sie überall, was tat ich da, wussten wir über etwas Bescheid, das wir noch gar nicht kannten? Ihr Vater sagte: »Du kannst bleiben, solange du willst. Du kannst für immer bleiben.« Sie zog sich das Hemd über den Kopf, ich griff nach ihren Brüsten, es war komisch, und es war ganz natürlich, sie zog mir das Hemd über den Kopf, in dem Augenblick, als ich nichts mehr sehen konnte, lachte Herr Goldberg und sagte: »Für immer«, ich hörte ihn im kleinen Raum auf und ab laufen, ich schob meine Hand unter ihren Rock, zwischen ihre Beine, es war, als müsste im nächsten Moment alles um uns herum in Flammen aufgehen, ich war völlig unerfahren, wusste aber genau, was zu tun war, es war wie in meinen Träumen, als hätte ich das Wissen längst in mir getragen wie zusammengedrückte Sprungfedern, alles, was geschah, war schon einmal geschehen und würde wieder geschehen, »Die Welt ist mir fremd geworden«, sagte Annas Vater, Anna drehte sich auf den Rücken, vor einer Wand aus Büchern, durch die Stimmen und Pfeifenrauch drangen, »Ich will mit dir schlafen«, flüsterte Anna, ich wusste genau, was ich tun musste, die Nacht brach an, Züge fuhren ab, ich hob ihren Rock, Herr Goldberg sagte: »Mir war sie nie vertrauter«, und ich konnte ihn auf der anderen Seite der Bücher atmen hören, hätte er eines aus dem Regal gezogen, dann hätte er alles gesehen. Aber die Bücher beschützten uns. Ich war nur eine Sekunde in ihr, da ging ich schon in Flammen auf, sie wimmerte, Herr Goldberg stampfte mit dem Fuß auf und schrie wie ein waidwundes Tier, ich fragte sie, ob alles in Ordnung sei, sie nickte, ich ließ mich auf sie sacken, drückte meine Wange an ihre Wange, und ich sah das Gesicht deiner Mutter in einem Fenster im zweiten Stock, »Warum weinst du dann?«, fragte ich, erschöpft und um eine Erfahrung reicher, »Krieg!«, sagte Herr Goldberg zornig und niedergeschlagen, seine Stimme bebte: »Das sinnlose Morden geht weiter! Ein Krieg der Menschheit gegen die Menschheit, und er wird erst vorbei sein, wenn es niemanden mehr gibt, der kämpfen kann!« Sie sagte: »Es hat wehgetan.«

Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist ?

Jeden Morgen vor dem Frühstück, noch bevor ich hierher fahre, gehe ich mit deiner Mutter ins Gästezimmer, die Tiere folgen uns, ich blättere in den leeren Seiten und zeige ihr durch Gesten, ob ich lachen oder weinen muss, wenn sie mich fragt, worüber ich lache oder worüber ich weine, tippe ich mit dem Finger auf die Seite, und wenn sie fragt: »Warum?«, lege ich ihre Hand zuerst auf ihr Herz und dann auf meines, oder ich lege ihren Finger auf den Spiegel oder ganz kurz auf die Kochplatte, manchmal frage ich mich, ob sie nicht doch alles weiß, in meinen nichtesten Nicht-Momenten frage ich mich, ob sie mich nicht einfach nur auf die Probe stellt, ob sie den ganzen Tag nur Unsinn tippt oder überhaupt nichts tippt, um meine Reaktion zu testen, sie will einfach wissen, ob ich sie wirklich liebe, mehr will man nicht vom anderen, nicht Liebe selbst, sondern die Gewissheit, dass man geliebt

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