Extrem laut und unglaublich nah
Idee, und anfangs hielt ich sie für richtig gut, ich dachte, wenn deine Mutter nicht mehr litte, sondern schriebe, wenn sie eine Möglichkeit hätte, sich von ihrer Last zu erlösen, sie lebte einfach nur dahin, sie hatte nichts, das sie anregte, für das sie sorgen, das sie ihr Eigen nennen konnte, sie half im Laden aus, kam nach Hause und setzte sich in ihren großen Sessel und schaute in ihre Zeitschriften, sie las sie nicht, sondern starrte durch sie hindurch, auf ihren Schultern sammelte sich der Staub. Ich holte meine alte Schreibmaschine aus dem Schrank und schaffte alles Nötige für sie ins Gästezimmer, einen Kartentisch als Schreibtisch, einen Stuhl, Papier, ein paar Gläser, eine Karaffe mit Wasser, eine Kochplatte, ein paar Blumen, Cracker, es war kein richtiges Büro, aber es erfüllte seinen Zweck, sie sagte: »Aber es ist ein Nicht-Ort«, ich schrieb: »Gibt es einen besseren Ort für dich, um deine Lebensgeschichte aufzuschreiben?« Sie sagte: »Meine Augen sind schlecht«, ich erwiderte, sie seien gut genug, sie sagte: »Ich sehe kaum noch etwas«, sie legte sich die Finger auf die Augen, ich wusste, dass ihr so viel Aufmerksamkeit peinlich war, sie sagte: »Ich weiß doch gar nicht, wie man schreibt«, ich sagte ihr, das sei egal, man müsse die Wörter einfach kommen lassen, sie legte die Finger auf die Tasten wie eine Blinde, die ein fremdes Gesicht befühlt, und sagte: »Ich habe noch nie getippt«, ich sagte: »Drück einfach auf die Tasten«, sie sagte, sie wolle es versuchen, obwohl ich von Kindesbeinen an wusste, wie man Schreibmaschine schreibt, hatte ich es auch nie richtig gelernt. Monatelang war es das Gleiche, sie stand um vier Uhr früh auf und ging ins Gästezimmer, die Tiere folgten ihr, ich fuhr hierher, ich sah sie erst nach dem Frühstück wieder, und nach der Arbeit blieb jeder von uns für sich, wir sahen uns erst zur Schlafenszeit wieder, machte ich mir Sorgen um sie, weil sie ihre ganze Kraft in ihre Lebensgeschichte steckte, nein, ich freute mich für sie, ich kannte das Gefühl, das sie dabei hatte, die Begeisterung darüber, eine neue Welt zu erschaffen, hinter der Tür konnte ich die Geräusche der Schöpfung hören, wie die Lettern aufs Papier trafen, wie die Seiten aus der Maschine gezogen wurden, endlich einmal war alles besser als sonst, alles war so gut wie nur möglich, alles hatte einen Sinn, und in diesem Frühling, nach Jahren einsamer Arbeit, sagte sie schließlich eines Morgens: »Ich möchte dir etwas zeigen.« Ich folgte ihr ins Gästezimmer, sie zeigte auf den Kartentisch in der Ecke, auf dem die Schreibmaschine stand, eingezwängt zwischen zwei ungefähr gleich hohen Papierstapeln, wir gingen zusammen hin, sie berührte alles, was auf dem Tisch stand, dann reichte sie mir den linken Papierstapel, sie sagte: »Mein Leben.« »Wie bitte?«, fragte ich, indem ich mit den Schultern zuckte, sie tippte mit dem Finger auf die Seite, »Mein Leben«, sagte sie noch einmal, ich blätterte die Seiten durch, es waren mindestens tausend, ich legte den Stapel wieder ab, »Was soll das sein?«, fragte ich, indem ich ihre Hände auf die meinen legte und sie mit einer Drehung meiner Hände wieder abwarf, »Mein Leben«, sagte sie voller Stolz, »ich bin jetzt in der Gegenwart angelangt. Gerade eben. Ich habe mich selbst eingeholt. Als Letztes habe ich getippt: ›Jetzt zeige ich ihm, was ich geschrieben habe. Hoffentlich gefällt es ihm.‹« Ich nahm den Stapel wieder zur Hand und blätterte ihn noch einmal durch, denn ich wollte die Seite mit ihrer Geburt finden, die Seite mit ihrer ersten Liebe, ich wollte wissen, wann sie ihre Eltern zum letzten Mal gesehen hatte, und außerdem suchte ich Anna, ich suchte und suchte, ich schnitt mich mit dem Papier am Zeigefinger, und mein Blut tropfte und bildete eine kleine, rote Blume auf der Seite, auf der ich eigentlich hätte sehen sollen, wie sie jemanden küsste, aber alles, was ich sah, war dies:
Ich hätte am liebsten geweint, doch ich weinte nicht, ich hätte vermutlich weinen müssen, ich hätte uns beide hier in diesem Zimmer ertränken und unser Leiden beenden müssen, man hätte uns gefunden, wie wir mit dem Gesicht nach unten auf zweitausend weißen Seiten trieben oder unter dem Salz mei ner verdunsteten Tränen begraben lagen, mir fiel ein, erst in diesem Moment und viel zu spät, dass ich vor Jahren das Farb band aus der Maschine genommen hatte, es war meine Rache an der Schreibmaschine und an mir selbst gewesen, ich
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