Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
Vom Netzwerk:
und wenn er sich die Sache erst in Ruhe überlegen wolle, sei das völlig okay, er könne dann ja einfach herunterkommen und mir seine Entscheidung mittei len. Er dachte weiter nach. »Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen«, sagte ich. Er dachte weiter nach. Ich fragte ihn: »Haben Sie sich schon entschieden?«
    Er schwieg.
    »Was meinen Sie dazu, Mr Black?«
    Nichts.
    »Mr Black?«
    Ich tippte ihm auf die Schulter, und er hob unvermittelt den Kopf.
    »Hallo?«
    Er lächelte wie Mom, wenn sie entdeckt, dass ich etwas nicht ganz Astreines angestellt habe.
    »Ich habe deine Lippen gelesen!« »Was?« Er zeigte auf seine Hörgeräte, die mir bis dahin nicht aufgefallen waren, obwohl ich mich immer wahnsinnig bemühe, dass mir nichts entgeht. »Ich habe sie schon vor langer Zeit ausgeschaltet!« »Sie haben sie ausgeschaltet?« »Vor einer Ewigkeit!« »Mit Absicht?« »Ich wollte Batterien sparen!« »Wozu?« Er zuckte auf eine Art mit den Schultern, die mich im Unklaren darüber ließ, ob er Ja oder Nein meinte. Und dann kam mir noch ein Gedanke. Ein schöner Gedanke. Ein wahrer Gedanke. »Soll ich die Hörgerä te für Sie einschalten?«
    Er sah mich an und gleichzeitig durch mich hindurch, als wäre ich eine Buntglasscheibe. Ich fragte ihn noch einmal und bewegte die Lippen dabei langsam und präzise, damit er mich auf jeden Fall verstand: »Soll. Ich. Die. Hörgeräte. Für. Sie. Ein schalten?« Er sah mich immer noch an. Ich fragte ein drittes Mal. Er sagte: »Ich weiß nicht, wie ich Ja sagen soll!« Ich erwi derte: »Brauchen Sie auch nicht.«
    Ich trat hinter ihn und sah, dass jedes seiner Hörgeräte ein winziges Rädchen hatte.
    »Sei vorsichtig!«, sagte er, und er klang fast bittend. »Es ist schon so ewig lange her!«
    Ich trat vor ihn, damit er meine Lippen sehen konnte, und ich versprach ihm, so vorsichtig wie möglich zu sein. Dann trat ich wieder hinter ihn und drehte unglaublich behutsam und millimeterweise an den Rädchen. Nichts geschah. Ich drehte sie noch ein paar Millimeter. Und dann noch ein paar. Ich trat vor ihn. Erst zuckte er mit den Schultern, dann zuckte ich mit den Schultern. Ich trat wieder hinter ihn und drehte noch ein bisschen mehr an den Rädchen, bis sie nicht mehr weitergingen. Ich trat vor ihn. Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht funktionierten die Hörgeräte nicht mehr, vielleicht waren die Batterien an Altersschwäche eingegangen, vielleicht war er auch völlig ertaubt, seit er sie abgeschaltet hatte, alles gut möglich. Wir sahen uns an.
    Da tauchte aus dem Nirgendwo ein Vogelschwarm auf und flog extrem nah und unglaublich laut am Fenster vorbei. Es waren ungefähr zwanzig Vögel. Vielleicht auch mehr. Sie wirkten fast wie ein einziger Vogel, weil sie irgendwie alle ge nau wussten, was zu tun war. Mr Black fasste sich an die Oh ren und stieß eine Reihe krasser Laute aus. Er begann zu wei nen – nicht vor Glück, das war mir klar, aber auch nicht aus Traurigkeit.
    »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, flüsterte ich.
    Er nickte, weinte beim Klang meiner Stimme aber noch mehr.
    Ich fragte ihn, ob ich noch ein bisschen Krach machen solle.
    Er nickte, und dabei strömten ihm immer mehr Tränen über die Wangen.
    Ich ging zum Bett und rüttelte daran, wodurch ein paar Na deln und Büroklammern abfielen.
    Er weinte immer mehr.
    »Soll ich die Hörgeräte wieder ausschalten?«, fragte ich, aber er schenkte mir keine Beachtung mehr. Er ging durchs Zim mer und legte die Ohren an alles, was Geräusche machte, selbst an so leise Dinge wie Heizungsrohre.
    Ich wäre am liebsten dageblieben und hätte zugeschaut, wie er der Welt lauschte, aber es war schon spät, und um halb fünf Uhr hatte ich eine Hamlet – Probe, und es war eine extrem wichtige Probe, denn es war die erste mit Beleuchtung. Ich sagte Mr Black, dass ich ihn am nächsten Samstag um sieben Uhr morgens abholen käme, und dann würden wir loslegen. Ich sagte zu ihm: »Ich bin noch nicht einmal mit den A’s durch.« Er sagte: »Okay«, und beim Klang seiner eigenen Stimme musste er am meisten weinen.
    Nachricht Drei. 9:31 Uhr. Hallo? Hallo? Hallo?
    Als Mom mich an diesem Abend zudeckte, merkte sie, dass mich etwas beschäftigte, und sie fragte mich, ob ich über irgend etwas reden wolle. Ich wollte, aber nicht mit ihr, also sagte ich: »Ist nicht böse gemeint – aber lieber nicht.« »Ganz bestimmt nicht?« » Très fatigué «, sagte ich und wedelte mit einer Hand. »Soll ich dir noch etwas vorlesen?« »Nein, ist

Weitere Kostenlose Bücher