Extrem laut und unglaublich nah
Dad gehört«, sagte ich und zog ihn wieder unter dem Hemd hervor, »und ich würde gern wissen, welches Schloss er öffnet.« Er zuckte mit den Schultern und dröhnte: »Das würde ich auch gern wissen!« Dann schwiegen wir eine Weile.
Ich war kurz davor zu weinen, aber da ich nicht vor Mr Black weinen wollte, fragte ich ihn nach der Toilette. Er zeigte zur Treppe. Als ich sie hochstieg, klammerte ich mich ans Geländer und begann, mir Erfindungen auszudenken: Airbags für Wolkenkratzer, solarbetriebene Limousinen, die unendlich weit fahren können, ein reibungsloses, ewiges Jo-Jo. Im Bad roch es nach altem Mann, und ein paar Kacheln waren von der Wand gefallen und lagen auf dem Fußboden. Hinter einer Ecke des Spiegels, der über dem Waschbecken hing, steckte das Foto einer Frau. Sie saß am Küchentisch, an dem wir gerade gesessen hatten, und obwohl sie drinnen war – versteht sich von selbst –, trug sie einen riesengroßen Hut. Das verriet mir, dass es sich um einen besonderen Menschen handelte. Sie hatte eine Hand um eine Teetasse gelegt. Ihr Lächeln war irrsinnig schön. Ich fragte mich, ob sie bei der Aufnahme an der Hand geschwitzt hatte und ob ihr Schweiß an der Tasse kondensiert war. Ich fragte mich, ob Mr Black das Foto gemacht hatte.
Bevor ich wieder nach unten ging, schnüffelte ich noch ein bisschen herum. Ich war schwer beeindruckt, wie intensiv Mr Black gelebt hatte und wie sehr er darauf aus war, sein Leben um sich zu haben. Ich probierte den Schlüssel an allen Türen aus, obwohl er gesagt hatte, ihn nicht zu kennen. Nicht, dass ich ihm misstraute, im Gegenteil, ich vertraute ihm. Aber ich wollte am Ende meiner Suche sagen können: Ich habe alles Menschenmögliche versucht. Es gab eine Schranktür, aber der Schrank enthielt nichts Spannendes, nur einen Haufen Män tel. Eine andere Tür führte in ein Zimmer mit vielen Kisten. Von ein paar nahm ich den Deckel ab, und sie waren voller Zeitungen. Teilweise waren die Zeitungen ganz vergilbt, und manche sahen fast aus wie Herbstlaub.
Ich schaute in einen anderen Raum, offenbar sein Schlaf zimmer. Darin stand das irrste Bett, das ich je gesehen habe, denn es bestand aus Baumstücken. Die Beine waren Stümpfe, Kopf- und Fußende waren Stämme, und der Himmel war aus Ästen. Außerdem war es von oben bis unten mit den unglaub lichsten Metallgegenständen bedeckt, zum Beispiel mit Mün zen, Bolzen und einem Anstecker mit der Aufschrift ROOSEVELT .
»Das war mal ein Baum im Park!«, sagte Mr Black hinter mir, und ich erschrak so sehr, dass meine Hände zitterten. Ich fragte: »Sind Sie sauer auf mich, weil ich herumgeschnüffelt habe?«, doch er hatte mich anscheinend nicht gehört und fuhr einfach fort. »Am Reservoir. Sie ist mal über eine seiner Wurzeln gestolpert! Damals, als ich ihr den Hof gemacht habe! Sie ist hingefallen und hat sich an der Hand geschnitten! Nur ein kleiner Schnitt, aber ich habe ihn nie vergessen! Das ist so lange her!« »Aber an Ihrem Leben gemessen war es wie gestern, richtig?« »Gestern! Heute! Vor fünf Minuten! Jetzt!« Er sah zu Boden. »Sie hat mich immer wieder gebeten, eine Pause bei meinen Berichterstattungen einzulegen! Sie wollte mich zu Hause haben!« Er schüttelte den Kopf und sagte: »Aber ich hatte auch meine Bedürfnisse.« Er senkte den Blick, dann sah er wieder mich an. Ich fragte: »Und was haben Sie daraufhin gemacht?« »Die meisten Jahre habe ich sie behandelt, als wäre sie mir völlig egal! Ich war immer nur zwischen den Kriegen zu Hause und habe sie monatelang allein gelassen! Irgendwo war immer Krieg!« »Wussten Sie, dass es im Laufe der letzten dreieinhalb Jahrtausende nur 230 friedliche Jahre in der zivilisierten Welt gegeben hat?« Er erwiderte: »Sag mir, welche 230 Jahre das sein sollen, und ich glaube dir!« »Ich weiß nicht, welche, aber ich weiß, dass es stimmt.« »Und wo ist sie denn, diese zivilisierte Welt, von der du sprichst!«
Ich fragte ihn, warum er schließlich doch mit der Kriegsberichterstattung aufgehört habe. Er sagte: »Mir wurde auf einmal klar, dass ich eigentlich mit einem Menschen an einem Ort sein wollte!« »Dann sind Sie also endgültig nach Hause zurückgekehrt?« »Ich habe sie dem Krieg vorgezogen! Und das Erste, was ich nach meiner Rückkehr getan habe – noch bevor ich die Wohnung wieder betrat –, war, in den Park zu gehen und diesen Baum zu fällen! Mitten in der Nacht! Ich dachte, irgendjemand würde mich abhalten, aber nichts der gleichen ist
Weitere Kostenlose Bücher