Extrem
Extremsituation? Oder sind nur besonders starke Schmerzen extrem? Dann wäre die Frage, wann ein Schmerz besonders stark ist und wer das beurteilt. In jedem Fall sind Schmerzen ein fühlbares Zeichen für körperliche Grenzen. Es sind Signale, die sagen: „bis hierhin und nicht weiter“. Schmerz ist das wirksamste Druckmittel des Körpers, auf sich aufmerksam zu machen. Er zwingt uns zu Pausen, die wir nicht eingeplant haben, zum Anhalten, wo wir eigentlich weitergehen wollen. Wo Schmerzen sind, gerät das perfekt organisierte Leben aus dem Takt. Zeit, die wir eigentlich der Arbeit widmen wollten, müssen wir plötzlich im Bett oder in den Warteräumen von Arztpraxen verbringen. Müssen Termine absagen, Pläne stornieren. Das Beisammensein mit Freunden und Familie wird getrübt, wenn Schmerzen unsere Aufmerksamkeit absorbieren, die Konzentration stören, uns zu Klagen veranlassen und Angst vor Krankheit und Tod hervorrufen.
Kommt der Schmerz von außen, ist das Signal eindeutig: Wer sich in den Finger schneidet, der weiß, was falsch gelaufen ist und wie die Korrektur des Fehlverhaltens aussieht. Auch die Kopfschmerzen nach übermäßigem Alkoholgenuss bereiten der Deutung keinerlei Probleme. Anders ist es mit Schmerzen, die von innen kommen. Ihre Ursache wird, wenn wir Pech haben, selbst von Ärzten nicht so schnell gefunden. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben mit der Suche nach einem Migräne-Mittel verbringen. Sie probieren die gesamte Pillenpalette der Pharmaindustrie, versuchen es mit Akupunktur oder homöopathischen Globuli und scheuen selbst vor Wunderheilern nicht zurück, ohne dass irgendetwas davon nachhaltig Linderung verschafft. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich bei der nächsten Migräne wieder in ein verdunkeltes Zimmer zurückzuziehen und zu warten, bis der Anfall vorüber ist. Schmerz ist Schicksal, lautet dann die resignierte Erklärung.
Wir haben vieles unter Kontrolle, doch der Schmerz hat uns in seiner Gewalt. Bei vielen Schmerzen wissen wir nicht, wann sie auftauchen, warum sie kommen und wann sie wieder gehen. In einigen Sprachen hat sich deshalb die lateinische Wortbedeutung für Schmerz durchgesetzt: „Poena“ bedeutet „Strafe“. Im Deutschen erinnert die veraltete „Pein“ an den Wortstamm, im Englischen „pain“ und im Französischen „peine“. Schmerz, so eine seit der Antike verbreitete Auffassung, ist eine Strafe der Götter. Er hat einen Sinn, eine verborgene Botschaft, die lautet: „Irgendetwas machst du falsch. So geht es nicht.“ Und obwohl die Götter der Antike und ihre Nachfolger inzwischen weitgehend vom Dienst suspendiert sind, neigen wir auch heute noch dazu, Schmerzen mit der Sinnfrage zu verknüpfen – insbesondere dann, wenn sie extrem stark, lebensgefährlich und scheinbar nicht zu beheben sind. „Warum ich?“ und „Warum gerade jetzt?“ lauten dann die Fragen.
Eine andere, biologische Sicht auf den Schmerz, die ihn als rein physiologisches Problem definiert, geht ebenfalls auf die Antike zurück. Schon um circa 400 v. Chr. wandte der griechische Arzt Hippokrates ein Extrakt der Weidenrinde an, mit dem er so mancher göttlichen Strafe ein Schnippchen schlug. Das Extrakt enthält Salicylsäure, die Urform des Aspirin, und Hippokrates bekämpfte damit, genauso wie wir es heute tun, Schmerzen und Fieber.
Vorsicht, Straßenbahn!
Hippokrates, auf den die Ärzte bis heute den medizinischen Eid schwören, steht am Beginn dessen, was wir als klassische Schmerztherapie bezeichnen. Sie beginnt mit der Diagnose des Arztes, der festzustellen versucht, ob der Schmerz eine körperliche Ursache hat. Ist ein Organ geschädigt, wächst ein Tumor, handelt es sich um eine Fehlfunktion der Nerven oder der Schmerzrezeptoren im Gehirn oder liegt eine ganz andere Ursache vor? Dann folgt die Behandlung mit Medikamenten. Sie beginnt mit schwachen Schmerzmitteln wie zum Beispiel Acetylsalicylsäure (das Nachfolgeprodukt der von Hippokrates verwendeten Salicylsäure) oder Paracetamol. Stärkere Mittel sind morphinähnliche, sogenannte schwache Opiate. In der dritten Stufe werden Morphin und andere morphinähnliche Schmerzmittel verabreicht. Schmerzmittel sind in den Apotheken die absoluten Bestseller. Ihr jährlicher Umsatz in Deutschland liegt bei rund 500 Millionen Euro.
Die Therapie von Schmerzen ist indessen nicht mit der Behebung der Ursache von Schmerz zu verwechseln. Ein Tumor muss chirurgisch entfernt werden, damit er nicht mehr gefährlich ist;
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