Extrem
Schnittwunden müssen genäht, Knochenbrüche operiert werden. Die Schmerzmittel dienen nur zur Bekämpfung der Begleiterscheinungen. Aber was genau ist Schmerz, physiologisch gesehen, eigentlich?
„Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ So lautet die Definition der International Association for the Study of Pain . Sehr vereinfacht dargestellt, sind Schmerzen Signale, die das Gehirn von Nervenzellen im Rückenmark erhält. Diese Nervenzellen werden dann aktiv, wenn es im Körper an irgendeiner Stelle zu einer Verletzung oder einer Entzündung kommt. Das Signal der Schmerzempfindung wird im Gehirn verarbeitet, das heißt, es wird auf eine hochkomplexe Weise interpretiert – erst dieser Vorgang resultiert in unserer Wahrnehmung von Schmerz.
Dabei spielen, wie man heute weiß, nicht nur mechanische Vorgänge der Nervenreizung eine Rolle, sondern auch viele psychische Faktoren: Wenn wir den Schmerz schon kennen, reagieren wir anders auf ihn, als wenn er uns bislang unbekannt war. Unsere Wahrnehmung ist immer völlig subjektiv. Schmerzen sind nicht messbar, sie können nur schwer eingeschätzt und kaum verglichen werden – wir müssen der Schilderung desjenigen glauben, der den Schmerz empfindet. Schmerz lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken, sondern nur beschreiben: Er kann stechend, bohrend oder schneidend sein, kann ziehen oder pulsieren. Natürlich hilft uns unsere Erfahrung, bestimmte Schmerzarten einschätzen und so mit dem Geplagten mitfühlen zu können. Das gilt vor allem für alle sichtbaren Leiden, Verletzungen jeglicher Art. Es fällt schwer, mit anzusehen, wie jemand unter eine Straßenbahn gerät und ihm das Bein abgetrennt wird. Anders ist das mit den inneren Schmerzen. Wir können nicht wissen, ob jemand simuliert – wenn er es gut macht.
Die Kraft der Suggestion
Der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) litt an Gicht, eine Krankheit, bei der sich die Gelenke von Händen und Füßen ohne äußeren Anlass entzünden. Als Kant von äußerst schmerzhaften Gichtanfällen heimgesucht wurde, gab es noch keine wirksamen Medikamente dagegen. Er bekämpfte die Schmerzen, indem er sich auf ein bestimmtes Thema lange und fest konzentrierte – zum Beispiel auf den römischen Redner Cicero. Dabei versuchte er, sich an alles zu erinnern, was ihm zu Cicero einfiel oder nur ansatzweise mit diesem zusammenhing. Die Methode war so wirkungsvoll, dass Kant sich manchmal am nächsten Morgen fragte, ob er sich die Schmerzen am Vortag vielleicht nur eingebildet hatte.
Von dem berühmten Mediziner Professor Sauerbruch ist folgende Anekdote überliefert, die sich während des Ersten Weltkriegs zugetragen haben soll. Der Zustand eines Patienten im Krankenhaus verschlechterte sich täglich, die Ärzte waren ratlos und verwiesen den Kranken an den Spezialisten: „Warten Sie, bald kommt Professor Sauerbruch, und wenn der herausgefunden hat, woran Sie leiden, wird es Ihnen bald besser gehen.“ Der Chirurg kam, besah sich den Patienten und raunte seinen Kollegen nur ein einziges Wort zu: „Moribundus“, auf Deutsch „Erwird sterben“. Der Todgeweihte, da er das Latein der Mediziner nicht verstand, glaubte, nun sei endlich die Diagnose gefunden, fasste Zuversicht und verließ das Krankenhaus zwei Wochen später – gesund.
Es gibt viele solcher Geschichten über die Kraft der Suggestion. Je mehr die Medizin über den menschlichen Körper herausfand, je größer ihre Erfolge und je gründlicher die wissenschaftliche Erforschung der Zusammenhänge von Krankheit und Heilung wurden, desto mehr wurden solche Anekdoten zu Wunderheilungen verklärt – und verlacht. Auch die sogenannte Placebo-Wirkung von Medikamenten fällt in diesen Bereich: Dass verabreichte Mittel auch dann wirken, wenn sie gar keinen Wirkstoff enthalten, dass also der Glaube allein schon Heilung bringt, passt nicht in unser wissenschaftliches Weltbild. Wenn es um den kranken Körper geht, spielen für Ärzte psychische Faktoren – Gefühle, unser Denken, unsere Überzeugungen – noch immer eher selten eine Rolle.
Doch gerade der Placebo-Effekt lässt sich nicht leugnen. Immer wieder passiert es, dass Medikamente wirken, obwohl sie anstelle eines Wirkstoffs nur eine harmlose Kochsalzlösung oder Zucker enthalten. Deshalb begannen Wissenschaftler, dieses Phänomen systematisch zu untersuchen.
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