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Extrem

Extrem

Titel: Extrem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Goedde
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komplett ausgesetzt hat. Das sind lichte Momente. Die Buddhisten nennen das ‚Erleuchtung‘ – im Christentum würde ich es als ‚mystische Einheitserfahrung‘ bezeichnen. Oder viel einfacher gesagt: Es geht für einen Moment lang ein Fenster zum Himmel auf.“
    Nicht jeder ist heute mehr auf der Suche nach religiöser Erfahrung; die Stille jedoch ist wieder richtig in Mode gekommen: Einen „Raum der Stille“ gibt es sogar an einem der meistbesuchten Plätze Berlins. Er befindet sich direkt neben dem Brandenburger Tor. Ein Ort des Rückzugs vom alles beherrschenden Großstadtlärm, der uns ständig und ohne die geringste Unterbrechung umgibt. Das Interessante an der Stille ist nämlich, dass sie einen Raum braucht. Wortwörtlich. Einen Raum mit Wänden und einem Dach, die von außen kommende Geräusche abhalten. Es sei denn, wir befinden uns in der Wüste. Wenn wir für einen Moment nichts sehen wollen, um unsere Augen zu entspannen, reicht es, die Augenlider zu schließen. Stille hingegen lässt sich nicht so einfach herstellen. Leider haben wir keine Ohrenlider! Um die Ohren gegen die Außenwelt abzuschotten, bedarf es schon mindestens unserer Hände, eines Taschentuchs oder ähnlicher Hilfsmittel, und wenn wir an einer Verkehrskreuzung stehen oder uns in einem Technoschuppen aufhalten, hilft auch das wenig. Deshalb müssen wir einiges unternehmen, um uns gegen Lärm zu schützen und Stille zu ermöglichen. Wir bauen Wände und errichten Schallschutzmauern. Was aber ist Stille eigentlich genau?
Wenn uns Stille in den Wahnsinn treibt
    In Schweigeklöstern und Einsiedeleien bedeutet Stille in erster Linie, dass nicht gesprochen wird. Geräusche wie das Klappern des Geschirrs beim Essen sind dort sicher zu hören; gerade diese würden wir hingegen bei einer Aufführung klassischer Musik als besonders störenden Lärm empfinden. Stille ist also nicht gleich Stille. Während wir unsere Mitmenschen mit einem „Seid doch mal still!“ durchaus zum Schweigen bringen können, lässt sich die Luft nicht wirklich zum „Stillstand“ bringen. Schallwellen sind nämlich winzige Druckschwankungen eines schallübertragenden Mediums, und als dieses Medium fungiert meist die Luft. Sobald sie durch das Schwingen einer Schallquelle in Bewegung versetzt wird, hören wir etwas. Das Zupfen an einer Gitarrensaite löst beispielsweise eine solche wellenförmige Bewegung der Luft aus, und diese Wellen sind hörbar. Dasselbe passiert, wenn ich mit einemPresslufthammer das Straßenpflaster aufreiße. Und wir alle wissen aus leidvoller Erfahrung, wie sehr sich die klanglichen Resultate unterscheiden.
    Ein Raum, in dem es still ist, ist ein Raum, in dem sich nichts bewegt. In diesem Sinne ist die Stille auch so etwas wie eine radikale Verneinung: Wo Stille ist, geschieht nichts. Das kann mitunter zu Irritationen führen, weshalb man zum Beispiel darauf verzichtet, Telefonverbindungen absolut geräuschfrei zu machen – obwohl dies technisch längst möglich wäre. Sobald nämlich während des Gesprächs eine Pause entsteht, glauben die Teilnehmer bei absoluter Stille, die Verbindung sei unterbrochen. Sie sehen ihren Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung ja nicht. Deshalb wird jede Verbindung heute absichtlich mit einem Grundrauschen unterlegt.
    Der heilige Antonius erlebte in der Wüste – so erzählt es die Geschichte – Halluzinationen und Visionen. Seine Erfahrung ist inzwischen medizinisch erforscht. Stille ist, wie wir gesehen haben, heilsam, sie kann aber auch das Gegenteil sein: bedrückend, beklemmend, peinlich, gespenstisch, unheimlich oder unheilvoll. Sie ist mit dem Tod verbunden – das sagt uns auch unsere sprachliche Erfahrung, etwa wenn von Toten- oder Grabesstille die Rede ist. In den 1970er Jahren wurden die psychischen und körperlichen Reaktionen auf die sogenannte sensorische Deprivation, den Entzug jeglicher Sinnesreize, an der Psychiatrischen Klinik in Hamburg-Eppendorf ausführlich untersucht. Dazu konstruierte man eigens eine Zelle, die Camera Silens (die Schweigekammer), in der die Testpersonen von äußeren Reizen ganz und gar abgeschottet wurden. Die Folgen dieses Experiments waren erschütternd. Eingesperrt in eine Zelle, ohne die Möglichkeit, sich hörend und sehend frei zu bewegen – und sei esim Nichts der Wüste –, treibt uns die Stille in den Wahnsinn. In Verbindung mit dem Entzug jeglicher äußerer Reize macht extreme Stille krank. Dabei erleben die Menschen nicht nur Halluzinationen,

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