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Extrem

Extrem

Titel: Extrem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Goedde
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sondern auch psychische Schäden, Störungen der Atmung, des Herz-Kreislaufs, des Schlafs und sogar Veränderungen des Stoffwechsels. Diese angsteinflößende Seite der Stille ist lange bekannt – angeblich wurden Gefangene bereits im Mittelalter mit totaler Geräuschlosigkeit gefoltert. Und auch in unserer Zeit taucht immer wieder der Verdacht auf, Regierungen würden sich dieses Mittels bedienen, um Häftlinge zu foltern und zu Geständnissen zu erpressen.
    Die Stille hat also auch ihre Schattenseiten, wobei den Versuchspersonen in der Camera Silens neben akustischen auch alle anderen Reize entzogen werden. Es handelt sich also streng genommen nicht um ein reines Stille-Experiment. John Cage hingegen, der amerikanische Stilleforscher, besuchte schon in den 1940er Jahren eine echofreie Kammer; einen nahezu schalldichten Raum. Er wollte wissen, was man hört, wenn man nichts hört. Zu seiner Überraschung stellte er fest: „[Ich] hörte zwei Töne, einen hohen und einen tiefen. Als ich dies dem verantwortlichen Ingenieur beschrieb, erklärte er mir, dass der hohe Ton ständig vom Nervensystem erzeugt werde, während der tiefe von der Blutzirkulation stamme.“ Sollte das heißen, dass es absolute Stille gar nicht gibt?

Out of Hoffenheim oder Wie Lärm krank macht
    Die Welt ist lauter geworden. Man verspottet sie gerne, die ewig Gestrigen mit ihren nostalgischen „Früher war alles besser“-Seufzern – doch hier dürfte es zur Abwechslung mal zutreffen. Der Lärm nimmt zu. Ständig. Vor gut 150 Jahren entstand unsere Industrie mit ihren Maschinen und Fabriken. Da erstaunt es fast, dass Lärmschwerhörigkeit zumindest in Deutschland erst seit 1970 als anerkannte Berufskrankheit gilt. Inzwischen hat sie alle Rankings als eine der häufigsten Berufskrankheiten gestürmt. In Fabriken, Schreinereien, auf Baustellen – überall, wo Maschinen verwendet werden, die einen Geräuschpegel von 85 Dezibel (dB(A)) und mehr erzeugen, geht das Hörvermögen über kurz oder lang verloren. Entsprechende Verordnungen zum Hörschutz verhindern lediglich, dass diese Zahl noch höher ausfällt.
    Von Wilhelm Busch, dem Erfinder von Max und Moritz, erzählt man sich, er habe zeitweise in einer Mühle gewohnt. Mit den Jahren sei er auf genau der Frequenz taub geworden, auf der das Mahlen des Mühlsteins ein Geräusch erzeugte. Das war im 19. Jahrhundert – ein seltener, früher Fall permanenter Lärmbelästigung. Bevor es Maschinen gab, stellte der Lärmpegel an den meisten Orten der Welt vermutlich kaum ein ernstzunehmendes Problem dar. Die Mühlsteine der heutigen Zeit heißen Fluglärm, Baulärm, Straßenverkehr, und sie mahlen überall. Es ist schwierig, ihnen zu entrinnen. Der Lärm unserer Umgebung, inzwischen auch als „Lärmverschmutzung“ bezeichnet, ist zum Zankapfel geworden. Getreu der Definition „Lärm sind die Geräusche der anderen“ (Kurt Tucholsky), ziehen die, die sich gestört fühlen, gegen Kneipen und Diskos, spielende Kinder, selbst gegen das Läuten der Kirchenglocken vor Gericht. Seit den 1990er Jahren gibt es zahlreiche Urteile, in denen unter anderem festgelegt wurde, dass Kirchenglocken die Lautstärke von 65 dB(A) nicht überschreiten dürfen. Zum Vergleich: Eine normale Unterhaltung bewegt sich zwischen 50 und 60 dB(A), starker Stadtverkehr trifft bei denen, die am Straßenrand stehen, schon mit rund 80 dB(A) auf die Ohren. Presslufthammer, Musikanlagen in Diskotheken und Konzerte erreichen bis zu 120 dB(A), also fast den doppelten Wert der Lautstärke, mit dem die Kirche ihre Gemeinde zum Gebet rufen darf!
    Die Welt ist lauter geworden. Wie ein Haufen lärmender Kinder, die um Aufmerksamkeit ringen, konkurrieren moderne Lärmquellen miteinander und übertönen sich gegenseitig. Doch es handelt sich längst nicht bei allen Geräuschen um überflüssige, lästige Abfallprodukte. Der Sinn des Martinshorns von Feuerwehr und Krankenwagen ist es, schon aus weiter Ferne gehört zu werden. Entsprechend wurde die Lautstärke nach oben angepasst: Mit dem zunehmenden Geräuschpegel der Stadt wurde der Pegel der Martinshörner auf bis zu 125 dB(A) erhöht. Esstimmt also wirklich: Früher war es leiser! An diesem Wettbewerb beteiligt sich auch die Natur. Die Vögel der Stadt sind lauter geworden. Ihr Gesang dient unter anderem der Kommunikation; um einen Partner zu finden, müssen sie die Geräusche der Umgebung überbieten. Es geht bei ihnen zu wie bei uns: Wer seinen Schnabel nicht weit genug aufreißt,

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