Ezzes
alles, was bislang sein Leben bestimmt hatte, über Bord geworfen. Schon bisher hatte es immer wieder Täter gegeben, die ihn gedauert hatten, und doch hatte er sie der Justiz überantwortet. Wenn es, so war stets seine Maxime gewesen, Gründe gab, die für Milde gegenüber den Malefikanten sprachen, so würden diese auch vom Gericht anerkannt, und die Strafe fiel entsprechend gering aus. Und doch musste sich jeder seiner Verantwortung stellen und seinen Preis an die Gesellschaft zahlen. Bronstein wusste nicht, weshalb dieser eherne Grundsatz für ihn plötzlich nicht mehr galt. Er war seit über zwanzig Jahren im Staatsdienst, und er hatte Österreich stets treu, vorbehaltlos und ergeben gedient, ohne jemals auch nur den Funken einer Anerkennung dafür zu erhalten. Doch das war das Los eines Beamten in diesem Land. Beamte waren stets und zu jeder Zeit die Sündenböcke der Nation. Sie hatten für die katastrophalen Fehler, die inkompetente, korrupte und bösartige Politiker sowie deren indolente Sykophanten begingen, geradezustehen. Sie galten bei jeder kleinen Krise alswillkommene Prügelknaben, auf die der Volkszorn abgelenkt werden konnte. Das größte Lob, das einem Beamten widerfahren konnte, war, dass er nicht allzu oft erniedrigt, beleidigt und gedemütigt wurde. Seine Erfolge waren stets die Erfolge des jeweils ressortleitenden Politikers, seine Misserfolge blieben hingegen immer die seinen. Deshalb bezog ein Beamter auch kein Gehalt, sondern eine Art Mischung aus Schmerzens- und Schweigegeld, und die großzügige Pension, die der Staat gewährte, war in Wirklichkeit die Bestechungssumme, mit der man Beamte im Ruhestand davon abhielt, nach ihrer aktiven Dienstzeit die Wahrheit über die Missstände im Land zu verbreiten. Das alles war Bronstein immer bewusst gewesen, und er hatte es wie all die anderen Beamten auch hingenommen in der festen Überzeugung, dass Österreich tatsächlich unterginge, wenn die Beamten in ihrer Gesamtheit dies nicht verhinderten.
Doch wer konnte noch davon sprechen, Österreich sei zu retten, wenn der Justizpalast in Flammen stand, wenn das Volk sich mit der Polizei prügelte, wenn das Land geteilt war in Rot und Schwarz? Wenn ausgerechnet die einen Schutzbund für die Republik gegründet hatten, die verkündeten, Republik, das sei nicht viel, Sozialismus sei das Ziel, während die anderen lieber heute als morgen die Republik auslöschen würden, um das mittelalterliche Kaisertum wieder zu installieren? Was war das überhaupt für ein Staat, dem er, Bronstein, dienen sollte? Ein Staat, der Großhändler, Spekulanten und Wirtschaftskapitäne aus Prinzip ungeschoren ließ, während er arme Leute rücksichtslos verfolgte? Bronstein war definitiv zu alt, um die Welt zu retten, aber er war noch nicht alt genug, um nicht mehr zu erkennen, was Recht war und was nicht. Und wenn er jetzt nicht handelte, dann würde er sich das sein Leben lang vorwerfen. Lieber die Karriere – welche Karriere? – aufs Spiel setzen, als sich schuldig zu machen an dem Schmierentheater, das die politischen Größen dieses Landes tagtäglich aufführten,um ihre Macht, ihren Einfluss und ihren Reichtum zu wahren. Sicher hetzte der Austerlitz in der „Arbeiterzeitung“ wieder kräftig gegen die Regierung, und trotzdem rief er den Schober an, um ihn vor allfälligen Demonstrationen seiner eigenen Anhänger zu warnen. Was für ein absurder Witz! Von Schattendorf bis Wien gingen sich Anhänger und Gegner der Regierung buchstäblich an die Gurgel, während die Herren Politiker gepflegt bei einem Glas Cognac über die Wetten beim Derby philosophierten. Nein, sagte sich Bronstein, er war nicht länger gewillt, den Geherda für diese verkommenen Philister zu spielen, und darum ging er seinen Weg auch konsequent zu Ende. Die drei Frauen sollten eine Chance erhalten, jeder weiteren Verfolgung zu entgehen.
„Es wird nicht lange dauern“, sagte er daher endlich, „bis man wieder auf eurer Fährte ist. Die Sachlage ist zu eindeutig, ich bin euch ja auch recht schnell auf die Schliche gekommen. Wirklich sicher werdet ihr nur sein, wenn ihr aus Österreich flieht. Ihr müsst anderswo ein neues Leben anfangen. Ihr seid jung, ihr werdet das schon schaffen.“
„Aber wohin, um Gottes Willen, sollen wir denn gehen?“, fragte die Breuer, „wir kennen doch nirgendwo irgendwen. Wer wird uns aufnehmen?“
Das Seitentor, das den fünf bislang Schutz geboten hatte, gab krachend nach, und ein weiterer Schwall Demonstranten
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