Ezzes
…“ Unvermittelt schlug die Melodie eines Wienerliedes an Bronsteins Ohr, und ohne weiteres Zögern folgte er dem Gesang, der ihn an ein offenes Tor führte. Bronstein trat ein, erblickte eine schattige Platane, unter der einige Tische aufgestellt waren. Frohgemut nahm er Platz und wartete auf die Bewirtung. Die trat auch prompt aus dem Haus und erkundigte sich nach seinem Begehr. Er bestellte ein Viertel aus örtlichem Anbau und bedeutete der Bedienung, dass er auch Hunger habe. Er wurde auf die Schank verwiesen, wo er sich selbst ein Mahl zusammenstellen könne. Dies ließ sich Bronstein nicht zweimal sagen und besah sich das reichhaltige Angebot. Wenig später saß er mit einem ordentlichen Tiegel Liptauer, einigen Essiggurkerln, einem harten Ei, mehreren Scheiben Schwarzbrot, zwei Fleischlaberln, einem Salzstangerl und einer großen Portion Erdäpfelsalat wieder an seinem Platz und war rundum zufrieden.
Nach dem Essen fühlte er sich ziemlich träge. Er blinzelte in den Sonnenuntergang, genehmigte sich ein weiteres Viertel, rauchte eine Zigarette und lauschte versonnen den Wiener Weisen, mit denen den Gästen offensichtlich die Zeit vertrieben werden sollte. Er bemerkte mit großer Befriedigung, dass sein Kopf völlig leer wurde. Keine Grübeleien über den aktuellen Fall oder andere Themen quälten ihn, er meinte beinahe, auf Urlaub zu sein. Was braucht ein Wiener mehr als ein GlaserlWein und seine Ruhe, sagte er sich selbst und gab sich vollends dieser seligen Stimmung hin.
Doch jedes kleine Glück hat sein Ende, und mitunter schneller, als einem lieb ist. Es ging auf 22 Uhr, als Bronstein und die anderen Gäste auf die Sperrstunde hingewiesen wurden, da die letzte Straßenbahn nach Wien in Bälde abfahren würde. Bronstein hielt nichts von einem stundenlangen Fußmarsch zurück in die Zivilisation, und so beglich er eilig seine Zeche, um unmittelbar darauf den Rückweg anzutreten. Zurück am Bürgerplatz, der mittlerweile freilich Reumannplatz hieß und seit einem Jahr von dem markanten Bau des neuen städtischen Bades geprägt wurde, überlegte Bronstein, wie er nun am besten nach Margareten käme, und beschloss, fünf grade sein zu lassen, als er eines der neumodischen Taxis die Straße entlangkommen sah. Er hielt den Wagen an und ließ sich nach Hause kutschieren. Nach den Kosten beim Heurigen kam es ihm auf einen Schilling mehr oder weniger auch nicht mehr an. Er registrierte, dass der Wein seine Wirkung tat, denn er fühlte sich leicht benebelt. „Macht nix“, sagte er sich selbst, „umso besser werde ich schlafen.“
II. Freitag, 8. Juli 1927
Am nächsten Morgen erwachte Bronstein reichlich lädiert. Vielleicht war er zu alt für solche Eskapaden. Dabei hatte er doch höchstens vier, allerhöchstens fünf Viertel getrunken. Und, na ja, den Schnaps zur besseren Verdauung. Also, zwei Stamperl, um genau zu sein. Oder waren es drei gewesen? Und wie spät war es überhaupt?
Bronstein, der ein mustergültiges Beispiel für korrektes Einhalten der Dienstzeit war und stets als Erster im Büro erschien, war mit einem Schlag hellwach. Zehn Minuten vor acht, das konnte doch unmöglich stimmen. Er sprang aus dem Bett und ging nach nebenan in die Küche, wo er die Uhrzeit auf der dortigen Uhr kontrollierte. Tatsächlich, acht Minuten vor acht. Er würde es nie schaffen, zeitgerecht im Büro zu erscheinen. Bronstein seufzte. Als er sich endlich in eine stehende Position gebracht hatte, traf er eine Entscheidung. Er würde auf den morgendlichen Kaffee verzichten, das nächstbeste Gewand anziehen und ohne weitere Verzögerung auf den Margaretenplatz eilen, in der Hoffnung, dort ein Taxi anzutreffen. Sein Frühstück würde demzufolge aus einer Zigarette bestehen, die er im Wagen rauchen würde.
Bronstein hatte Glück. Tatsächlich stand ein Automobil der Marke Gräf & Stift vor dem ehemaligen Schloss, der Fahrer saß auf dem Trittbrett und trank Kaffee aus einer Thermoskanne. „Guten Morgen!“, bedachte Bronstein den Mann mit einem Gruß, „Sie schickt der Himmel. Ich muss ganz dringend in die Innenstadt.“
Der Mann trank den letzten Schluck Flüssigkeit weg und verschloss mit dem Trinkgefäß die Thermosflasche. Er standauf, klopfte sich die Hosen ab und meinte nur: „Na, dann fahr’ ma, Euer Gnaden.“
Als Bronstein mit hechelnder Zunge sein Büro betrat, zeigte die Amtsuhr acht Minuten nach acht Uhr. Auch Pokorny war noch nicht da, sodass Bronstein eilig eine Zigarette anrauchte, hastig einige
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