Ezzes
werfen wollte, liebäugelte Stedronsky schon offen mit einem unabhängigen Polen. Das Letzte, das Bronstein von Stedronsky gehört hatte, war, dass er als Oberst der polnischen Armee im Warschauer Generalstab wirkte und sich sonst um Frau und Kind kümmerte.
Bronsteins Blick fiel auf ein anderes Gesicht. „Jössas“, sagte er halblaut zu sich, „der Drdla.“ František Drdla war die romantische Seele der Klasse gewesen. Er hatte früh schon Gedichte geschrieben und war später in brieflichem Kontakt zu Rilke gestanden. Dann allerdings hatte Drdla die Liebe zu seiner tschechischen Heimat entdeckt und war nach Prag übersiedelt, wo er sich, wie es hieß, mehr schlecht als recht mit diversen Buchrezensionen und Theaterkritiken über Wasser hielt.
Neben Drdla grinste Geyer frech ins Objektiv der Kamera. Geyer war seinerzeit der Klassenbeau gewesen. In Latein, Griechisch und Deutsch eine völlige Niete, aber in Turnen eine wahre Koryphäe. Natürlich hatte auch er beim Militär Karriere gemacht, ein klassischer Herrenreiter. Mittlerweile war er wie Stedronsky Oberst im Generalstab, allerdings saß Geyer in der „Maresi“, in der Maria-Theresien-Kaserne in Wien. Natürlich hatte der Geyer auch noch eine gute Partie gemacht. Die Edle von Söhlenthal, die ihm seit der Hochzeit zwei Kinder geschenkt hatte, galt zwar als kapriziös und launisch, doch für den Geyer war sie das Tor in die oberen Kreise gewesen.
Bronstein mochte nicht länger an den Geyer denken und ließ stattdessen seinen Blick über die anderen Mitschüler schweifen. Eigentlich waren alle auf die eine oder andere Art glücklich geworden. Nur er nicht. Und der melancholische Drdla.
Irgendetwas musste ihm ins Auge geraten sein, denn es brannte mit einem Mal, sodass er es rieb. Er räusperte sich und nahm noch einen weiteren Schluck Wein zu sich, während er sich die übrigen Fotografien besah. Sie waren samt und sonders uninteressant. Wenn das, was da vor ihm lag, sein Leben war, dann war er wirklich arm dran. Vor allem gab es kein einziges Mal eine Frau an seiner Seite. Er war niemals verlobt gewesen, geschweige denn verheiratet, und seine Amouren konnte er an den Fingern einer Hand abzählen, an den Fingern der Hand eines Sägewerksarbeiters.
Hatte ihn denn wirklich niemals eine Frau geliebt? Wo hätte er sie auch herzaubern sollen? Nach der Schule auf der Universität war man ebenso unter sich geblieben wie danach auf der Polizeischule. Sein erstes Mal hatte er denn auch standesgemäß in einem Bordell in der Provinz erlebt. Später, als junger Polizist, war er ein paar Mal mit einer Wirtstocher ausgegangen, doch da war nichts gewesen, was auf tiefere Gefühleihrerseits hätte schließen lassen. Und so war er schonbeinahe dreißig gewesen, als er endlich glaubte, unter die Haube zu kommen.
Sie hatte Marie Caroline geheißen und war die Tochter eines Parlamentsbeamten gewesen. Die Dinge hatten sich in jenem Frühjahr gut angelassen, doch dann war ihm dieser merkwürdige Fall dazwischengekommen, der ihm plötzlich wichtiger gewesen war als alles andere. Marie Caroline hatte ihn vor die Wahl gestellt: die Karriere oder sie. Sie hatte nicht verstanden, dass es ihm nicht um den beruflichen Aufstieg, sondern ums Prinzip ging, und so war er an dem fraglichen Abend nicht bei ihr geblieben, sondern hatte sich ins Café Herrenhof begeben, um sich mit seinem Freund Egon Erwin zu treffen. Als er gegen Mitternacht wieder nach Hause kam, da war Marie Caroline schon ausgezogen. Falscher Stolz hatte ihn damals dazu veranlasst, ihr nicht nachzueilen und sie zur Umkehr zu bewegen. Die Folge seines Zögerns waren fünf einsame Jahre gewesen, die er zum allergrößten Teil an der Front zugebracht hatte. Wieder nach Wien zurückgekehrt, hatte er sich nicht einmal mehr daran erinnern können, wie Marie Caroline ausgesehen hatte.
Dann hatte plötzlich Jelka seinen Weg gekreuzt. Eine junge, forsche Kommunistin, die ihn sofort begeisterte. Sie hätte er wirklich heiraten wollen, davon war er immer noch überzeugt. Und wahrscheinlich wollte er das immer noch, denn anders war es nicht zu erklären, dass er lieber jungen Dingern nachsah, als sich auf eine ernsthafte Bindung einzulassen. Ja, so musste es sein, er liebte Jelka immer noch.
Es war erstaunlich, wie schnell ein Abend dahinschwinden konnte, wenn man seinen Gedanken nachhing. Bronstein klappte das Fotoalbum zu und erhob sich schwer aus seinem Sessel. Er stellte das Album zurück ins Regal und die leere
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