Ezzes
lukullischen Genüssen zusprach, dann käme zu seinem mäßigen Äußeren und seinem beginnenden Alter auch noch Übergewicht, und dann war er endgültig nicht mehr vermittelbar am Heiratsmarkt. Eilig steckte er sich eine Zigarette an und kämpfte gegen das Bedürfnis, sich zu betrinken. Nicht einmal Freunde besaß er, mit denen er sich abends zu einer gemütlichen Runde in einem Gasthaus zusammensetzen konnte. Und das Glas, das man alleine trank, das schmeckte stets am bittersten.
Instinktiv sah er auf die Uhr. Nicht einmal noch acht. Kein Wunder, draußen war es noch hell. Was sollte er mit diesem Abend nur anfangen?
Es konnte doch nicht die Möglichkeit sein, dass er überhaupt keine Interessen hatte, schalt er sich. Er war doch früher nicht so ein trauriger Tropf gewesen. Entschlossen dämpfte er die Zigarette aus und erhob sich. Er ging zu seinem Bücherregal und machte sich auf die Suche nach geeigneter Lektüre, um den Abend des Trübsinns in einen des Sinns zu verwandeln.
Merkwürdig. Er hätte schwören können, seine Bibliothek bestehe ausschließlich aus erstklassigem Druckwerk, er könne zwischen Hegel, Kant und Feuerbach, zwischen Schleiermacher, Ranke und Mommsen, zwischen Grillparzer, Hölderlin und Fallersleben wählen. Doch irgendjemand schien seineBücherwand heimlich, still und leise ausgewechselt zu haben, denn da stand rein gar nichts, zu dem er guten Gewissens hätte greifen können. „Der Schatz im Silbersee“. Wie kam denn das hierher? „Die freudlose Gasse“. Hmm, Kolportage, aber auch nicht das Richtige, denn dann wäre er schon wieder in einer Situation, in der er mit dem Mangel an Liebe konfrontiert würde. Fontane, Eichendorff, Lenau. Nein, lyrisch war er selbst schon genug.
Was war denn das? Da stand doch wahrhaftig ein Fotoalbum in seinem Regal. Der Besitz eines solchen war ihm gar nicht bewusst gewesen. Bronstein griff danach und ging damit zurück zum Küchentisch. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Dann öffnete er das Album. Der gestrenge Blick seines Vaters traf ihn, dazu der melancholische seiner Mutter. Das Hochzeitsfoto, aufgenommen in einem kitschigen Atelier im 6. Wiener Gemeindebezirk, wie er der Inschrift entnehmen konnte. Eilig blätterte er um. Der junge David Bronstein starrte ihm entgegen. Einmal nackt auf einem Eisbärenfell, einmal im Alter von etwa sechs Jahren im Matrosenanzug. War er wirklich schon damals so traurig gewesen, wie der Gesichtsausdruck auf dem Bild es vermittelte? Es war ein Fehler gewesen, in dieser Stimmung in die Vergangenheit einzutauchen, dessen wurde sich Bronstein nun bewusst. Die Vergangenheit schien die einzige uneinnehmbare Bastion zu sein, auf die er sich in seinem trostlosen Leben noch verlassen konnte. Wenn die nun auch noch in die Brüche ging, weil seine Erinnerung an das Vergangene nicht mit der dokumentierten Wirklichkeit korrespondierte, dann blieb ihm nichts mehr. Mit einer fahrigen Bewegung krallte er sich das Weinglas und stürzte dessen Inhalt gierig in sich hinein. Wer sah der Wahrheit schon ins Auge, wenn er nicht dazu gezwungen war? Er tat es freiwillig. Doch wenn er es schon tat, dann sollte er es wenigstens nicht nüchtern tun.
Offensichtlich waren die Fotoalben allerorten gleich. Jeder Mensch, und sei er auch noch so bedeutungslos, wurde stets bei denselben Gelegenheiten abgelichtet. Unmittelbar nach der Geburt, am ersten Schultag, beim Militär, bei der Hochzeit und bei irgendwelchen Familienfesttagen. Dementsprechend dünn war Bronsteins Album. Nachdem er die paar Kinderbilder achtlos überblättert hatte, sah er sich und seine Klassenkameraden auf dem offiziellen Maturabild, das 1901 entstanden war. Witzig, dachte Bronstein, während er die Zigarette ausdämpfte, mit einigen von denen war er sogar wirklich befreundet gewesen. Mit dem Stedronsky zum Beispiel. Der hatte gleich nach der Matura die Offizierslaufbahn eingeschlagen, war dann nach Agram zum dortigen Militärkommando versetzt worden. Anfänglich hatte man sich noch ab und zu Karten geschrieben. Zu Weihnachten etwa, bei welcher Gelegenheit man gleich ein frohes, neues Jahr wünschte, doch dann war der Kontakt recht bald abgerissen. Er war Stedronsky nur noch ein einziges Mal begegnet. 1918 an der ukrainischen Front. Stedronsky war damals schon Oberstleutnant gewesen. Das Wiedersehen war für beide Seiten recht enttäuschend verlaufen, denn während sich Bronstein immer noch für Österreich in die Bresche
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