Ezzes
erfreuen und neue Kräfte tanken, um dann mit frischem Mut an diesen verzwickten Fall heranzugehen. Nicht wenige vertraten die Ansicht, dass man einen besseren Überblick gewann, wenn man zuerst ein wenig Abstand herstellte, und genau dies beabsichtigte Bronstein nun zu tun. Allein mit sich und seinen Gedanken in den Wäldern, das würde fraglos die richtige Kombination sein, um den entscheidenden Durchbruch in den Überlegungen zum Fall Guschlbauer zu erzielen. Also fuhr er frohgemut mit der Linie 13 zum Südbahnhof, um dort einen Waggon zweiter Klasse zu besteigen, in welchem er die Reise anzutreten gedachte. Kaum im Abteil angelangt, zog er sein Sakko aus und hängte es neben den Fenstervorhängen an einen Haken. Auf dem Mitteltisch postierte er sein Menagereindl, in dem sich zwei Eierspeisbrote befanden, die ihm als Atzung dienen sollten. Daneben stellte er die Thermoskanne mit dem Tee, und schließlich zog er seine Lektüre aus der Hosentasche. Es war eines dieser eierschalenfarbenenReclam-Bändchen, mit dem er hoffte, während der Fahrt etwas Ablenkung zu finden.
Pünktlich auf die Minute setzte sich der Zug in Bewegung, und Bronstein registrierte erfreut, dass niemand sonst das Abteil betreten hatte. Zumindest bis Wiener Neustadt sollte er also seine Ruhe haben, dachte er sich, während er die Thermoskanne öffnete, um sich einen Schluck Tee einzugießen. Der Zug ratterte durch die Außenbezirke Wiens und erreichte bald Niederösterreich. Liesing, Perchtoldsdorf und Mödling passierte er ohne Zwischenstopp, und schon bewegte er sich auf Baden zu. Bronstein seufzte wohlig, räkelte sich und griff nach dem Büchlein, das er zuvor neben sich auf die Sitzbank gelegt hatte. Noch ehe er es aufschlug, hielt er jedoch in der Bewegung inne. Was hatte ihn nur dazu getrieben, ausgerechnet Schillers „Wilhelm Tell“ auf diese Reise mitzunehmen? „Durch diese hohle Gasse muss er kommen“, erinnerte er sich aus seiner Schulzeit, „es führt kein and’rer Weg nach Küssnacht.“ Der wack’re Tell brachte den grausamen Tyrannen Geßler zur Strecke, da der ihm unsäglich Leid zugefügt hatte. War das eine Botschaft aus seinem Unbewussten, wie der neumodische Vogeldoktor vom Alsergrund sicherlich kühn behaupten würde? War er, Bronstein, auf der Suche nach einem Tell, der mit dem Fronvogt Guschlbauer abgerechnet hatte? Aus der Sicht der Österreicher, zumindest der damaligen, musste Tell ein Verbrecher sein, der sich an der Obrigkeit vergriffen hatte, und wenn die Schweizer nicht seinerzeit die Auseinandersetzung mit Habsburg für sich entschieden hätten, wäre er dies wohl immer noch, vorausgesetzt, man erinnerte sich noch an ihn. Und der Herr Regimentsmedicus aus Marbach am Neckar hätte ihm gewiss kein Stück gewidmet. Mit Gut und Böse war es so eine Sache, dachte sich Bronstein, während vor dem Abteilfenster die sanfte Hügellandschaft des Wiener Umlandes an ihm vorüberglitt. Objektiv war alles nur eine Frage des Zeitpunkts.Wer hätte es gewagt, dem Johann von Habsburg den Beinamen Parricida zu verpassen, wenn seiner Tat eine Krönung zum deutschen Herrscher gefolgt wäre? Und Heinrich der Zänker hieße nun wohl „Heinrich der Weise“, wäre er in seinem Ringen gegen die Ottonen nicht untergegangen. War nicht auch Robin Hood ein ganz gewöhnlicher Dieb gewesen, den nur der Volksmund in den Rang eines Helden erhoben hatte? Und so mochte es denn auch genügend Leute zwischen der Inneren Stadt und Simmering geben, die im Mörder Guschlbauers, nun, wenn schon keinen Helden, so zumindest keinen Übeltäter sehen mochten. Doch ihm standen derlei Überlegungen eigentlich nicht zu, er war nicht Richter über solches Tun, seine Aufgabe war es, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, mochte es nun gerecht sein oder nicht. Er, der Polizeioberstleutnant David Bronstein, stand nicht außerhalb seiner Zeit, und deshalb musste er eben dieser seiner Zeit Genüge tun. Die Geschichte mochte dereinst, entrückt auf höherer Warte, ein anderes Urteil sprechen, derweilen galt, was das Gesetz befahl. Und dieses Gesetz hieß ihn, den Mörder Guschlbauers zu finden und der Gerechtigkeit zuzuführen, denn es führte kein anderer Weg nach Küssnacht.
Abermals seufzte Bronstein und wollte nun endlich das Buch aufschlagen, als der Zug merklich an Fahrt verlor, um schließlich ruckartig im Bahnhof von Baden zum Stehen zu kommen. Bronstein nutzte die Pause, um das Fenster zu öffnen und sich neugierig umzusehen. Es stiegen etliche Passagiere
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