Ezzes
Beobachter war klar, Schober war nur noch ein Kanzler auf Abruf. Österreich stolperte in jenen Tagen, wie Bronstein sich noch gut erinnerte, in seine veritable Inflationskrise, und die Nachwirkungen des verlorenen Krieges erschütterten das Land im Allgemeinen und die Wirtschaft im Besonderen. Wenige Wochen nach der Breisky-Krise kamen die Christlichsozialen zu dem Schluss, nennenswerte Probleme brauchten einen nennenswerten Politiker, und so warfen sie ihren Prälaten Seipel in die Schlacht, der Schober kurzerhand erklärte, seine Dienste als Politiker würden nicht länger gebraucht. Diesmal rief ihn niemand zurück, und so saß Schober im Frühjahr des Jahres 1922 wieder an seinem Schreibtisch im Wiener Polizeipräsidium. Ein wenig älter und viel melancholischer. Es war für alle Untergebenen klar ersichtlich, wie sehr ihn diese Demontage getroffen hatte, und Schober brauchte Monate, um seine alte Souveränität zurückzuerlangen. Das war nun alles freilich schon über fünf Jahre her, doch Schober ließ keine Gelegenheit aus, seine gesamte Umwelt daran zu erinnern, wer er einmal gewesen war. Keine einzige Unterredung kam ohne eine Formulierung aus, die sich auf seine Tätigkeit als Kanzler bezog. Zumeist ließ er es dabei bewenden, zu sagen: „Das habe ich als Kanzlergenauso gemacht.“ Hie und da prahlte er aber auch mit seinen internationalen Kontakten oder mit seinen Begegnungen in der Politik. Alle Beamten pflegten an dieser Stelle innerlich aufzuseufzen und die Augen zu verdrehen, doch niemand hätte laute Kritik an dem Mann mit dem weißen Stoppelhaar gewagt. Im Gegenteil, seine unerwarteten Zornesausbrüche waren gefürchtet, und jeder, der zum Präsidenten einbestellt war, schlug heimlich ein Kreuzzeichen, ehe er das Büro des Gottsöbersten aufsuchte.
Bronstein ging es da im Prinzip nicht anders, doch just an diesem Vormittag dachte er über die Vergänglichkeit von Macht nach. Schober lebte davon, einmal wer gewesen zu sein. Doch genau dies bedeutete, dass er nun eigentlich niemand mehr war. Bronsteins Blick fiel auf das Porträt des Staatsoberhaupts, das über der Tür hing. Auch dies war ein treffliches Beispiel für Vergänglichkeit. Jahrzehntelang hatte an dieser Stelle der gütige Blick des alten Monarchen auf den Beamten geruht, ehe nach seinem Tod der strenge Gesichtsausdruck Karls des Letzten den Raum dominierte. Bronstein konnte sich noch gut daran erinnern, dass dessen Bild die Revolution glatt überdauert hatte. Schober war schon nicht mehr Kanzler, da hing immer noch Karl in den Amtsräumen. Erst als dieser auf Madeira verschieden war, hatte Pokorny, buchstäblich mit Tränen in den Augen, das Porträt abgenommen. „Jetzt kommt er sicher nimmer“, hatte der Pokorny damals gemeint, ehe er bis Dienstschluss eine nicht enden wollende Tirade an Anekdoten hinterhersandte. Die charakteristische Stelle war dann rund zwei Jahre leer geblieben, und nur die helle Stelle zeugte von der einstigen Präsenz eines Wandschmucks. Doch nach der Wiederwahl von Michael Hainisch zum Bundespräsidenten hielt die Republik schließlich auch in der polizeilichen Amtsstube Einzug, und seit nunmehr zweieinhalb Jahren hatte Bronstein bei jeder sich bietenden Gelegenheit den weißen Rauschebart des alten Professors im Blick.
Der freilich half ihm auch nicht dabei, für den Präsidenten eine akzeptable Rede vorzubereiten. Guschlbauer war nun schon über eine Woche tot, und die Polizei war, genau betrachtet, keinen einzigen Schritt weiter. Bronstein konnte sich lebhaft vorstellen, wie Schober toben würde. Was, Sie haben noch nicht einmal die Hälfte der möglichen Verdächtigen ausfindig gemacht, obwohl die alle quasi auf dem Präsentierteller liegen? Das darf doch wohl nicht wahr sein!
War es aber. Und mit der Wahrheit war es ja auch so eine Sache. Als Polizist musste man natürlich nach der Wahrheit suchen. Aber, erinnerte sich Bronstein an ein altbekanntes Theorem des Sokrates, man könne nicht suchen, was man nicht wisse, da man dann ja nicht wisse, wonach man suchen müsse. So leicht durfte er es sich allerdings auch nicht machen, denn im Prinzip galt es, wenigstens die restlichen Angestellten aufzutreiben. Das konnte ja nun wirklich nicht so schwierig sein. Die verschwundene Verkäuferin war Kati genannt worden, und einige Stammkunden hatten sogar einen Hinweis auf den Nachnamen gegeben. Es musste doch möglich sein, diese Person über das Meldeamt ausfindig zu machen.
Bronstein blickte auf die Uhr. Bis
Weitere Kostenlose Bücher